Soutines letzte Fahrt: Roman (German Edition)
in Berthe Weills Galerie im Dezember 1917. Am Tag der Eröffnung will der Bezirkskommissar, der in der Rue Taitbout sein Büro gegenüber hat, die Ausstellung wieder schließen lassen. Er hat den Auflauf vor den Galeriefenstern beobachtet. Die Leute bleiben stehen, starren auf die Nackten, ihr empörend entblößtes Schamhaar, ihr triumphierendes Geschlecht. Schütteln die Köpfe und können sich nicht losreißen. Tumult liegt in der Luft.
Wir haben Weltkrieg, und diese Bande vom Montparnasse stellt ihre Schweinereien aus.
Modis paradiesische Schamlosigkeit, Chaims unbekehrbare, unheilbare Scham. Das nackte Modell versetzt ihn in panische Angst und Lähmung. Es gibt einen einzigen Akt, 1933, einer hat sie Eva genannt. Nicht ihre Nacktheit malen, nein, ihre hastig verdeckte Blöße. Nicht das von Modigliani zelebrierte schwarze Dreieck, sondern das im Gesicht dahinhuschende Schamgefühl. Im Augenblick der Vertreibung aus dem Paradies.
Alle Leichtigkeit ist Last für den andern aus Smilowitschi. Sie sitzen bei Zborowski in der Rue Joseph-Bara 3 um den Tisch, Kisling ist auch da, sie essen Minestrone, die Lunia Czechowska zubereitet hat. Modi ist satt, wischt sich den Mund am Ärmel ab und springt auf.
Chaim, jetzt mach ich dein Porträt.
Er greift nach einer Palette, geht zur Tür des Wohnzimmers und fängt an, direkt auf die Tür Soutines Porträt zu malen, schwungvoll, rasant: Chaim unter seinem verbeulten Hut. Gleich auf die Tür, zum Vergnügen, zur Verdauung. Alle staunen, lecken sich die Lefzen. Und Hanka Sierpowska, Zbos Lebensgefährtin, die den schmutzigen Maler nicht ausstehen kann, findet ihn jetzt jeden Morgen vor sich auf der Tür. Einer von Modis Scherzen. Schamlos, windschnell, zur Verdauung. Soutine prangt von nun an auf der Tür und schaut allen Gästen in die Suppenteller. Als Hanka mault, erwidert Modi, die Tür werde einmal in Gold aufgewogen, fern in der Zukunft. Und Hanka:
Aber bis dahin müssen wir noch mit ihr leben.
Modi malt mindestens vier Porträts von Chaim, er aber keines von ihm. Eleni sagt es einmal weit nach Mitternacht in der Rue de la Tombe-Issoire mit verhaltenem Atem am Telefon:
Schau auf seine rechte Hand!
Sie meinte ein ganz bestimmtes Porträt, aus einer Privatsammlung. Ringfinger mit kleinem Finger angelegt, zusammen abgespreizt von den beiden andern, ebenfalls dicht angelegten: Zeigefinger und Mittelfinger. Sie hatte solche in der Mitte gespreizten Hände auf Grabsteinen gesehen. In Prag oder in Krakau, sie erinnert sich nicht genau. Die segnende Hand der Kohanim, der Priester, die nach der Zerstörung des zweiten Tempels in alle Welt verstreut wurden.
Verstehst du, Modi macht aus Chaim einen Priester, eine segnende Hand des Kohen. Eines malenden Kohen, ein leuchtendes Paradox, denn nie würde ein Priester des Tempels das Bilderverbot übertreten.
Aber warum weigerte sich Soutine, ein Porträt von Modigliani zu malen?
Weil er ihn sich nicht als gealterten Menschen vorstellen konnte. Wenn Soutine Personen malte, alterten die Modelle sichtbar vor seinen Augen. Sie saßen ein paar Stunden vor ihm und waren in der Zeit Greise und Greisinnen geworden. In den Gesichtern hatten alle Jahre ihr Werk schon getan, sie gruben sich tief ein in Falten und Runzeln, verzogen den verwirrten Mund der Menschen, die Wangen verrutschten, die Nase wurde übermächtig, das Ohr war immer schon uralt. Und der bekannte Tod meldet sich mit verhaltenem Lärm in diesen Gesichtern an. Die jugendliche Paulette Jourdain, Zborowskis Angestellte, saß ihm oft Modell. Sie war achtzehn, und er malte sie als eine steinalte, vom Leben tief gezeichnete Frau.
Paulette, rühr dich nicht, bleib so, keine Bewegung mehr.
Es dauerte Stunden, der Maler war anderswo, dauernd unzufrieden, er hackte tief in die Farben, misshandelte die Leinwand. Und das schmerzhaft erstarrte Modell. Sogar die Kinder sind greisenhaft, selbst die Puppen in ihren Händen – uralte, ausgegrabene Spielzeuge. Die Kinder sind schrumpelige, allzu früh in die Welt verstoßene Föten. Totgeborene Greise. Verrenkte Mumien, verklebt vom Schweiß der Farbe. Warum verformt Soutine die Körper seiner Modelle? fragt ein Neugieriger. Und Modigliani antwortet: Aber nein doch, das Modell wird während der Sitzung das, was er sieht, das Unsichtbare hinter dem Schein. Der vom Leben malträtierte, längst vom Absterben gezeichnete Mensch. Die Offenbarung unseres letztgültigen, finalen Zustands.
Soutine fürchtet sich vor dem Malen des Porträts,
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