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Soutines letzte Fahrt: Roman (German Edition)

Soutines letzte Fahrt: Roman (German Edition)

Titel: Soutines letzte Fahrt: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralph Dutli
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Rotonde, es gießt endlos aus riesigen Eimern, das Atelier ist ganz nah, warum geht er nicht dorthin? Er geht stumm und blind weiter, kommt bis zur Rue de la Tombe-Issoire (mein Gott, wie ich zittere, wenn ich diesen Namen schreibe), geht zurück zur Place Denfert-Rochereau, setzt sich hin zu den Füßen des Belfort-Löwen, und ein Husten schüttelt ihn, siebt ihn durch in dieser queren Regennacht. Er hustet und krümmt sich, spuckt dem Löwen sein Blut vor die Pranken. Dann macht er sich taumelnd auf zur Rue de la Grande Chaumière, steigt die steile Treppe hoch zum Atelier, wirft sich aufs Bett neben Jeanne, die im achten Monat schwanger ist. Und spuckt wieder Blut, wieder und wieder. So viel Blut hat kein Mensch.
    Kichernde plaudernde Schwalben überm Mittelmeer.
O Livorno!
Diese Krone aus Geschrei und Gekreisch schenke ich dir, du Dichter mit dem Kopf eines Ziegenbocks! Am 22. Januar klopft Ortiz frühmorgens mehrmals an die Tür, dann nimmt er Anlauf und wirft sich gegen sie, bis sie aufspringt. Der Chilene hat es uns erzählt. Amedeo auf dem Bett. In Jeannes Armen. Er röchelt leise, nennt sie
Cara Italia
. Ortiz ruft einen Arzt, der sofort den Transport in die Charité veranlasst, ins Armenhospital, wo die Clochards ihre letzte Runde vor dem Ausschluss drehen. Als er an der Ecke von Rue Jacob und Rue des Saints-Pères ankommt, ist er bewusstlos, wird nie wieder auftauchen aus seinem Mittelmeer. Zwei Tage später, am 24. Januar 1920, ist es vorbei. Samstag. Tuberkulöse Meningitis. Es ist 20 Uhr 45.
    Wie spät ist es, Ma-Be?
    Beruhige dich, das spielt keine Rolle, schließ deine Augen, wir werden bald da sein.
    Wie oft hat sie es schon geflüstert: Wir werden bald da sein. Die Morphintinktur hat die Zeit übernommen. Sie kümmert sich um den Rest. Der Leichenwagen fährt voran nach Paris, neben Paris, über Paris hinweg, als sei der Eingang zum Paradies nicht mehr zu finden. Irgendeine Klinik versteckt sich dort, scheint auf ihn zu warten und verbirgt sich vor den Augen der Besatzer. Er weiß nur: Es ist nicht die Charité. Soutine hört auf, sich zu fragen, wie spät es ist, ob Tag oder Nacht oder Dämmerung. Sie fahren endlos, endlos langsam, es ist der längste Tag seines Lebens.
    Und noch zwei Tage später. Ein Schatten geht über die Trottoirs, ein weißer Schatten, winzig, mager, ausgelöscht. Jeanne Hébuterne. Sie ist dreiundzwanzig. Sie hat ihn nur knapp drei Jahre gekannt. Sie hat nur drei Jahre gelebt. Sie war mit ihm in Nizza und Vence. Zbo schickte ihn in den Süden, nach Vence, seine Palette sollte sich im Kontakt mit der herrlich strahlenden Sonne aufhellen. Er sollte der Spanischen Grippe entkommen, die in Paris wütete, und der Kanonade. Es gibt in jedem Leben so viele gute Gründe zu fliehen. Vom 23. März 1918 an, einem herrlichen Frühlingstag, wird Paris von den Dicken Berthas beschossen, bis weit in den Mai hinein. Einundzwanzig Einschläge an dem Tag, aus einhundertundzwanzig Kilometern Entfernung, abgeschossen aus dem Wald von Saint-Gobain, sechzehn Kilometer hinter der Front.
    Und im Januar 20 trägt Jeanne wieder ihren runden Bauch in ihren beiden Händen. Sie geht, wie Hochschwangere gehen. Man führt sie durch die Gänge der Morgue, durch ein unterirdisches Labyrinth zu Amedeo, den keiner weiß mehr welche Götter geliebt haben sollen. Als sie seinen Leichnam sieht, schreit sie nur einmal auf, wie ein irres Tier, irr vor Trauer. Sie bleibt lange bei ihm, ohne ein Wort zu sagen. Sie bleibt unweit der Tür stehen, küsst ihn nicht, schaut ihn nur lange an, um das tote Rätsel zu verstehen, dass in ihr Leben eingedrungen war. Schneidet sich eine Locke ab und legt sie ihm in die Hand. Dann geht sie rückwärts zur Tür, ohne den Geliebten aus den Augen zu lassen.
    Der Montparnasse weiß alles. Nirgendwo ist ein Gerücht schneller als hier. Es gibt einen Pakt, sie will ihn erfüllen. Es bleibt nichts anderes mehr übrig. Sie verbringt die Nacht in einem billigen Hotel, Paulette Jourdain bleibt bei ihr. Die Zugehfrau findet ein Messer unter dem Kopfkissen. Sie hatte einmal eine Zeichnung von sich gemacht, auf der sie sich ein Messer in die Brust rammt. O, diese Kraft im Handgelenk. Die kleinen Madonnen haben unendliche Kraft. Man glaubt, nur eines ihrer Gemälde hätte überlebt: Blick in einen tiefen Hof, in dem ein stachliger, finsterer Baum vor sich hin dämmert, Blick von hoch oben, vom Dach hinunter. Irgendwann werden ihre andern Bilder auftauchen, Jahrzehnte später, aus

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