Soutines letzte Fahrt: Roman (German Edition)
Auferstandener mit Aufschub. Als er sechzehn ist, geben ihn alle auf, als die Tuberkulose ausbricht. Keiner hat so lange überlebt. Schon 1900 legen die Ärzte die Hände in den Schoß. Er ist schon tot. Und zwei Jahrzehnte noch lebt er als trinkender heiliger Blutspucker. O Calmette, o Guérin, o BCG, im Jahr nach seinem Tod kommt die Impfung in die Welt, verspätete Schiffe!
Er faselt jetzt von einem Schiff, das ihn in ein schönes Land bringen wird. Und er verwechselt es immer wieder mit Italien, wo seine Mutter wartet und die sinnlos erhoffte Heilung. Nur noch zurück, da vorne sieht es nicht mehr nach Heilung aus. Sein Mund schäumt, seine Schreie und Flüche zerreißen die verbliebene Leinwand.
Und Jeanne lauert und beobachtet. Eine Katze, die aus den Augenwinkeln alles sieht, was um ihr Einziges kreist. Modi spuckt Blut und trinkt, um den Schmerz zu betäuben. Seine Tuberkulose wird beschleunigt durch die bitteren Säfte. Was gerade greifbar ist. Durch Hunger und Kälte fühlt sie sich ermutigt. Und er haucht Zbo zu:
Wäre es nicht großartig, wenn wir unsere eigenen Leichen betrachten könnten? Ich lasse den Schlamm hinter mir. Ich weiß alles, was es zu wissen gibt.
Er ist ein schwer atmender Irrer geworden, der sich von seinem tuberkulösen Hass nährt. Ja, die Bazillen des Hasses verbünden sich mit der Tuberkulose. Er hasst Jeannes Ergebenheit, ihre Selbstaufgabe, ihre stumme Passivität, ihre Komplizenschaft mit seiner Selbstzerstörung. Und er hasst ihren zweimal gerundeten Bauch. In den letzten Porträts malt er sie hässlich, unförmig, traurig.
Sie schaut in der Rue de la Grande Chaumière ihrem Liebling beim Sterben zu, ohne den Arzt zu rufen. Es ist Januar. Die Tuberkulose ist auf sein Gehirn übergesprungen, die Bazillen finden ihren Weg. Der Ofen bleibt leer, keine Kohlen da. Kleine Tröpfchen bilden sich an den Wänden, verbinden sich, rinnen herunter. Die kleinen Fenster sind beschlagen, das L-förmige Schiff ist nicht mehr steuerbar, es treibt über die Dächer von Paris. Wasser muss im Hof geholt werden, doch Jeanne steigt nicht mehr hinab, um ihren Liebling nicht eine Sekunde aus den Augen zu lassen. Kerzenstummel sind noch da, Öllampen. Sie hat sein Sterben für sich reserviert, es gehört nur ihr. Modi läuft jetzt nicht mehr weg. Er wird ihr für immer gehören.
Sie sind völlig allein. Ortiz ist für eine Woche weggefahren, Zbo liegt mit der Influenza im Bett. Jeanne sitzt zusammengekauert neben ihm auf der Matratze, pflückt jede Sekunde dieses Anblicks. Den Arzt rufen, wozu? Er ist doch hier bei ihr. Sie schaut ihren Prinzen lange und stumm an. So also stirbt man. Sie will aus diesem Dreck mit ihm in den Himmel fliegen, wie es ausgemacht war. Sie hatten einen Pakt.
Als Ortiz zurückkommt, findet er Jeanne noch immer in derselben Position, zähneklappernd vor Kälte, in einer unvorstellbar verschmutzten Wohnung. Leere Flaschen, offene Sardinendosen, über die sich eine Eisschicht gelegt hat. Metall mit schwappendem Ölgrund. Die beiden zueinander gerückten Matratzen zeigen Ölschlieren. Sie haben seit acht Tagen nur Ölsardinen gegessen, die glitschigen Fische mit den Fingern herausgeklaubt und in den tauben Mund geschoben. Keine warme Mahlzeit.
Chaim hat sich von Ortiz seine letzten Worte berichten lassen, und er hört sie jetzt immer wieder, während dieser Fahrt im Leichenwagen.
Cara Italia
hat er gesagt und Jeannes Hand gepresst.
Cara Italia
. Sie war seine stumm leidende Madonna, sie war seine kleine geschrumpfte Mutter, sie war Livorno und die Schwalben und das Mittelmeer. Ja, sie wurde immer kleiner, bis sie seiner Mutter glich. Und immer wieder:
Cara Italia
. Nur er konnte das, diese ewige verdammte Liebe zu einem phantasierten Land
Italia
. Warum nur war er nicht im Paradies geblieben, wenn er sich immer danach sehnte? Bleib doch, wo du bist.
Und Soutine weiß es wieder, jetzt wo er deutlich dieses
Cara Italia
in den Ohren hallen hört, er hat Modi lallen gehört. Er selber hat sein Dorf immer verflucht, er möchte noch auf der Pritsche ausspucken, er will es nie wieder sehen, eher noch die Pyrenäen, wo er unglücklich von Höhe zu Höhe lief mit seiner Staffelei, nie wieder das stinkende Dorf mit seinen verfallenden Bretterhütten, dessen Name Smilowitschi ihn bis in die Albträume verfolgte, auf ihn einprügelte. Aber Modi. Gestammelt hat er es, als sich Jeanne neben ihn auf die Matratze legte.
Cara Italia
.
Es ist ein Januarabend 1920, er geht weg aus der
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