Soutines letzte Fahrt: Roman (German Edition)
gleichgültigen Überbleibseln ihres Bruders. Keiner hatte sie erwartet, die kleinen Madonnen sollen nicht malen. Aber Rimbauds Mädchen mit den Orangenlippen war eine staunenswerte Malerin.
Jeanne ist ruhig, sie hat sein Sterben gesehen, mehr gibt es nicht zu sehen. Mehr gibt es nicht zu wissen. Am nächsten Tag, es ist der fünfundzwanzigste, holen ihre Eltern und ihr Bruder sie in Zbos Wohnung ab, bringen sie von der Rue Joseph-Bara in die Rue Amyot, wo sie aufgewachsen ist. Sie sprechen kein Wort. Der Vorwurf ist stumm und verbissen. Sie haben es schon immer gewusst. Jeanne ist tief eingemauert in ihr eigenes Schweigen, das sie seit Jahren um sich und in sich errichtet hat.
Um drei Uhr morgens steht sie auf, der Bruder, der bei ihr wachen soll, ist vor Erschöpfung eingeschlafen. Sie geht auf Aschesohlen, so lautlos geht kein Mensch, durch die Wohnung wie eine Schlafwandlerin, geht ins Wohnzimmer, sie stößt nicht an die Möbel, öffnet das Fenster, klettert auf den Sims. Dreht sich um, dreht ihr Gesicht zum Inneren der Wohnung, um die Straße nicht sehen zu müssen, und fliegt rückwärts aus dem fünften Stock, nimmt in ihrem Innern das zweite Kind mit sich.
Cara Italia
. Wir werden sie dort bei uns haben. Sie sieht die Fenster vor sich hinaufgleiten, wer hätte gedacht, dass da so viele sind, endlos fällt sie, die Fenster fahren gegen den Himmel, sie sieht die Straße nicht, auf dem ihr Schädel aufschlagen wird. Grobe Pflastersteine. Ein dumpfer Aufprall, aber da ist auch ein Knacken, wie beim Öffnen einer dunklen, strähnigen Nuss. Sie liegt auf dem Pflaster, eine Puppe mit zerrissenen Gliedern, aus ihrem Schädel rinnt Blut übers Gesicht, ein feines, dünnes Rinnsal.
Wie lange liegt sie? zwei? drei Stunden? Ein Straßenkehrer mit seinem Reisigbesen und seiner Schubkarre findet sie am Morgen, als er seine Arbeit beginnt. Zart hebt er sie auf, nimmt sie in seine Arme, schaut am Haus empor, klingelt überall. Der Vater öffnet, Hébuterne. Er will die Leiche seiner Tochter nicht annehmen, will sie nicht in seinem Haus, die zerbrochene Puppe. Soll sie ihren Italiener suchen gehen, der noch in der Morgue liegt. Der Vater befiehlt dem Straßenkehrer, seine Tochter an die Rue de la Grande Chaumière zu bringen, ins Atelier, wo sie mit Modigliani gelebt hat. Der Mann legt die junge Frau behutsam auf seine Schubkarre. Den Reisigbesen legt er quer über sie.
Soutine versucht, sich im Leichenwagen vorzustellen, wo der Weg langführt, welche Straßen die kleine, zarte Leiche gesehen haben. Der Weg ist weit, alle Wege zur Operation sind endlos. Er biegt in die Rue Lhomond ein, geht Richtung Claude Bernard, noch weiter südlich, bis zum Boulevard de Port Royal, dann rechts, geradeaus in den Boulevard du Montparnasse. Er ist stark, die Lasten ist er gewohnt, der schroffe Mann hat ihm an der Haustür ein paar Scheine gegeben, es ist ein Auftrag. Soutine sieht die Straßen vor sich, wie oft ist er nachts durch die Schluchten gerannt, wenn es keinen Schlaf gab. Er läuft in seinem Morphintraum dem Straßenkehrer hinterher, Jeannes leichter Leiche hinterher. Endlich, die Rue de la Grande Chaumière. Doch die Concierge in der Nummer 8 lässt ihn nicht ein, er braucht ein Papier von der Polizei, in der Rue Delambre gegenüber, überquert noch einmal den Boulevard du Montparnasse. Hinauf unters Dach. Ortiz macht auf, der Straßenkehrer legt die junge Frau auf das Bett. Er steht verlegen da, drückt seine Mütze, starrt auf die Leiche mit den Rinnsalen überm Gesicht. Ortiz gibt ihm eine Münze, er verschwindet. Es ist noch immer eisig kalt, es ist Januar. Jeanne braucht keine Morgue.
Am nächsten Tag ist Modis Begräbnis, da liegt sie allein auf dem Bett. Auf dem Friedhof von Bagneux wollen sie sie allein begraben, ohne ihre verlausten Malerfreunde. Keiner darf dabeisein. Sie gehört jetzt wieder ihnen. Die kleine Madonna wird in der südlichen Vorstadt beerdigt. Keiner da, ihr
Cara Italia
nachzurufen. Alles ist verstummt. Auch das Begräbnis ist stumm. Zehn Jahre später nimmt sie ihre Siebensachen, wird ein zartes Täubchen und fliegt zum Friedhof Père-Lachaise in die Stadt hinein, ins Grab ihres Prinzen. Der Grabstein spricht italienisch.
Noch oft schleicht der Maler in die Rue Amyot, will von keinem gesehen werden. Keiner wird je wissen, dass er dort war, keiner wird es beobachten. Nur er weiß, was er tut auf dem Gehsteig gegenüber. Er schaut hinauf zum Fenster, wo nachts Jeanne herausflog, er sieht deutlich
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