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Soutines letzte Fahrt: Roman (German Edition)

Soutines letzte Fahrt: Roman (German Edition)

Titel: Soutines letzte Fahrt: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralph Dutli
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auf den kämpfenden Trikots, dieses langgezogene Stöhnen aus dem verschlungenen Fleischknäuel hervor. Wo war ich? Ach ja, das rote Blut.
    Doktor Bog lächelt jetzt doch ein wenig zufrieden, wenn er dem Maler den erstaunlichen Tod im Leben der roten Blutkörperchen erzählt. Dabei freut er sich eigentlich mehr an den weißen Blutkörperchen. Denn diese fünfzig Milliarden sind lebendige, vollwertige Zellen. Sie verteidigen den Körper gegen Infektionen. In den Geweben stehen sie wie kleine Wächter und warten. Wenn sie aber zu lange untätig im Knochenmark gewartet haben, begehen sie dort schließlich Selbstmord. In einem weißen Paradies aber müssten alle Blutkörperchen weiß sein, denn es gibt dort keinen Tod mehr, sagt Doktor Bog. Das rote Blut ist praktisch nur die Domäne des Todes. Es durchströmt den lebendigen Menschen als ein riesiger toter Strom, können Sie sich das vorstellen?
    Soutine, der Maler, schweigt und schweigt. Er denkt an Ma-Bes Platzwunde auf der Stirn, als von der erbosten Vermieterin in Champigny die Tür barsch zugeworfen wurde. Er denkt an den ausblutenden Hahn über der Hausschwelle am Morgen von Jom Kippur.
    Schon tot, aber sie machen sich immer noch nützlich. Genau wie die Maler, nicht wahr, Monsieur Sutinchaim? Die roten Blutkörperchen erfüllen ihre Aufgabe weit über den Tod hinaus. Hundertundzwanzig Tage lang tragen sie noch immer unermüdlich Sauerstoff aus der Lunge in die Gewebe, bis Fresszellen in der Milz oder in der Leber sie verschlingen. Zweihundert Milliarden von ihnen fallen jeden Tag diesem Massaker zum Opfer. Zweihundert Milliarden, Monsieur.
    Doktor Bog stockt theatralisch, versinkt mit großem Ernst in eine anschauliche Nachdenklichkeit. Dann zuckt er auf und fährt fort:
    Ist es nicht merkwürdig, dass die Menschen so wenig ahnen von dem Saft, der in ihnen fließt? Dass sie so tief erschrecken, wenn er ausgegossen wird? Als ob sie nicht wüssten, dass er sie bewohnt, dieser fahrende, von Gewebe und Haut zurückgehaltene Strom aus lauter Tod. Auch die äußerste Schicht unserer Haut besteht aus abgestorbenen Zellen, ein samtener Friedhof ist unsere Körperhülle. Im Menschenkörper ist überhaupt auffällig viel Tod auf einmal, finden Sie nicht? Von Ihrer Magenschleimhaut will ich heute schweigen.
    Und das Wort
Perforation
, das der Arzt in Chinon mit solchem Nachdruck ausgesprochen hatte, dringt noch einmal ins Gehirn des Malers, der zuhört, weil er nichts anderes tun kann in seinem weißen Laken. Aber er schweigt.
    Doktor Bog spricht noch lange vom roten, toten Blut. Er sagt auch: Die fünf Liter sind eine kleine Welt, in dem sich Leben und Tod helfend die Hände reichen. Der Tod, ein Nützlichkeitsfanatiker, schwimmt im zerbrechlichen Leben, das sich festhält an seinen dahintreibenden sauerstoffbeladenen roten Flößen.
    Der Maler weiß noch, wie er einmal ausrief, bevor er neue Leinwände aufschlitzte:
    Ich will nicht in meinem eigenen Blut ertrinken!
    Er lässt Doktor Bog noch weiter selbstzufrieden sinnieren. Er hört ihm nicht mehr zu. Ein sanfter Schlummer trägt ihn fort aus seinem weißen Laken. Als er einmal ein Auge aufschlägt, ist Doktor Bog schon nicht mehr zugegen. Er dämmert noch einmal weg, wird aber plötzlich von einem heftigen Klopfen und einer energischen Stimme auf dem Flur geweckt, die ruft:
    Hygienedienst! Hygienedienst!
    Der Maler erschrickt. Auch hier? Doch es passiert nichts. Keiner kommt hereingestürmt. Hat er die Stimme wirklich gehört? Das Ohr liebt es, uns zu täuschen. Mit Pfeiftönen suggeriert es scherbelnd davonfahrende Lokomotiven. Es quält mit Tinnitus und Hörsturz. Nein, es hat wirklich jemand »Hygienedienst« durch die Tür gerufen. Er denkt ans Ochsengerippe. Es dämmert noch immer der Verwesung entgegen. Er hatte es sich von den Vaugirard-Schlachthöfen, die er nur zu gut kannte seit den Tagen im Bienenstock, liefern lassen. Er hatte extra ein Gerüst aufgebaut im Atelier der Rue du Saint-Gothard, band es mit Seilen fest, welche Anstrengung, der Metzgerbursche musste mithelfen. Tagelang steht er davor, ringt mit dem Ochsengerippe, das Fleisch beginnt zu stinken, verliert seine frische rote Farbe, wird bräunlich, dörrt mit jeder Stunde weiter aus. Es muss aufgefrischt werden!
    Paulette Jourdain, die Geduld in Person, das gute Mädchen für alles, von Zborowski zu Diensten des Malers abgeordnet, schleppt ganze Eimer voller Rinderblut ins Atelier. Einen in jeder Hand. Ihr weiches, plumpes Handinnere zeigt den roten,

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