Soutines letzte Fahrt: Roman (German Edition)
eingravierten Striemen der Henkel. Der Maler faselt von Rembrandt, läuft immer wieder wie ein Verrückter in den Louvre, um jenes Ochsengerippe zu sehen. Und ein unwahrscheinlicher Gestank breitet sich derweil aus, so dass Paulette verbissen durch den Mund atmet.
Monsieur Soutine, ich möchte aber nicht mehr hingehen.
Es ist ihr peinlich, wenn die Schlachthausarbeiter sie misstrauisch mustern. Wenn sie den Verdacht hinter ihrer Stirn lesen kann. Wozu braucht die Kleine das viele Blut? Was tut sie damit?
Es ist für einen großen Kranken, hatte sie entschuldigend gestammelt.
Der Maler greift nach dem Eimer, gießt das Blut über den braunen Tierkadaver, er frohlockt, denn das Ochsengerippe glänzt jetzt wieder, der Tod triumphiert, erneuert von dem frischen Blut. Es rieselt herab in kleinen Bächen und durch die Bohlen hindurch in die unteren Räume, bis die Bewohner aufschreien und die Polizei rufen. Sie vermuten Mord und Totschlag. Der Gestank ist unerträglich, es stinkt zum Himmel!
Dann klopft es plötzlich heftig an die Tür, der Maler hat es eben wieder gehört, noch jetzt, im weißen Paradies.
Wer ist da?
Hygienedienst! Bitte machen Sie sofort auf!
Der Maler erschrickt, er ist weiß wie ein Toter. Ein Beamter mit weißer Schürze, einer weißen Mütze auf dem Kopf, tritt ein und will das entsetzlich stinkende Ochsengerippe beschlagnahmen. Im Atelier schwirren die grünen Fliegen. Soutine ist bestürzt, denn sein Bild ist noch nicht fertig. Rembrandt lacht triumphierend in einer Ecke.
Paulette bettelt für den verzweifelten Maler:
Sie sehen doch, dass er dabei ist, es zu malen, er braucht es, um sein Bild zu vollenden, bitte!
Die Hygieniker haben Mitleid, sie zücken ihre Spritzen und injizieren Ammoniak ins arme Fleisch auf dem Gerippe. Sie zeigen ihm mit ein paar Handgriffen, wie er die Tiere konservieren kann, ohne das Haus zu verpesten. Seither geht er dankbar mit Formol und Ammoniak und einem Sortiment großer Spritzen durch die Welt, um den Triumph des Todes in aller Frische blutrot zu bewahren. Und Truthähne, Hasen, Fasane dazu. Es sind mehrere Ochsengerippe, die er sich liefern lässt, und er fixiert jedesmal einen anderen Aspekt des saftigen Todes: ein Häufchen gelbes ranziges Fett oder die Verdrehung eines Gliedes, oder die Blutkuchen, die eine bewegte Oberfläche bilden.
Es ist das Jahr 1925, in dem er zum ersten Mal eine richtige Wohnung mieten kann, nur ein paar Schritte vom Parc Montsouris entfernt, und dazu noch in der Nähe ein großes Atelier, in der Rue du Saint-Gothard, wo er die Tierkadaver malt.
Boucherie Soutine
, zischen die erbosten Nachbarn. Die Metzgerei Soutine.
Er läuft immer wieder zum Louvre, kauft hastig eine Eintrittskarte. Er muss Rembrandts geschlachteten Ochsen sehen … und Chardins Rochen, Corots Landschaften, Courbets halbrote Forelle und das Begräbnis in Ornans. Eines nach dem andern, stundenlang. Seine alten Geheimgänge sind ein Ritual. Alles sehen. Als seien es die Mädchen, die in den
maisons closes
leichtgeschürzt oder halbnackt vorgeführt wurden, eines nach dem andern und alle zusammen. Es sind immer dieselben Bilder, die er aufsucht, er kann nicht genug bekommen von ihnen, er zittert vor Lust und Ehrfurcht, sie bringen ihn zur Verzweiflung, seine Augen nagen an den Leinwänden. Er will sie verschlingen, in seinen Eingeweiden in die Rue du Saint-Gothard tragen, um mit ihnen zu ringen.
Die Wärter erkennen ihn wieder, verständigen sich hinter seinem Rücken mit alarmierten Blicken und spitzen Handzeichen, befürchten einen Diebstahl, die gestohlene Gioconda ist noch in allen Köpfen. Oder sie fürchten gar einen Anschlag, Verrückte gibt es genug in den Museen, und der Hass auf Kunst ist weiter verbreitet als Drüsenfieber. Sie wissen nicht, dass er die Bilder eines einzigen Malers zerstört … Aber nicht seine Götter.
Hygienedienst! hallt es noch einmal auf dem Flur.
Er wohnt jetzt in einer Wohnung, hat ein Atelier. Doch die Krisen nehmen zu. Der Schmerz biegt ihn in zwei Hälften, überfällt ihn plötzlich, ohne Vorgeplänkel ist er da. Auch in Clichy, in der Rue d’Alsace, irgendwann in den ersten Monaten des Jahres 1928. Er ist auf der Straße zusammengebrochen, wird von einem Metzger aufgelesen und zu Doktor Destouches getragen wie eine blutende Ochsenhälfte. Destouches? Louis-Ferdinand Destouches? Der Name kommt ihm noch nicht bekannt vor.
Wie soll er Destouches’ Stimme hören im Leichenwagen? Sind Sterbende allwissend? Am Schluss
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