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Soutines letzte Fahrt: Roman (German Edition)

Soutines letzte Fahrt: Roman (German Edition)

Titel: Soutines letzte Fahrt: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralph Dutli
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der ganzen Operation weiß der Verblutende nicht mehr, was er erlebt oder nur gehört hat in seinem Leben. Ist es ihm zugestoßen oder einem andern? Ein Leben ist immer mehr als die eigenen Erinnerungen. Ist es wirklich seins, oder kreuzt sich ein fremdes Gedächtnis mit dem seinen? Wer trennt das Fremde vom Eigenen? Doch nicht Doktor Bog! Hört er all die Stimmen, die je in seinem Leben zu ihm sprachen? Wo sitzt denn das Aufnahmegerät? Wie unerschöpflich ist sein Ohr? Oder mischt Sertürners Mohnsaft die Erinnerungen und die Stimmen, fremde Laute und das eigene Erlebte? Hat er unzutreffende Erinnerungen, die ihn narren?
    Nein, Doktor Bog muss Bescheid wissen.
    Destouches schreibt an den ermittelnden Polizeikommissar Armand Merle, und in der Zukunft wird jeder vernünftige Mensch diesen Brief für erfunden halten. Aber der Zufall ist nicht vernünftig, sagt Eleni, und er hat gute Gründe dafür. Doktor Bog wedelt triumphierend mit dem Briefwisch, er hat ein Beweisstück in der Hand. Und hält es dem Maler sanft unter die Nase.
    Seit Anfang der Woche zwei Patienten gehabt. Die Tochter einer Nachbarin, die von einer Abtreiberin im Viertel verschnitten wurde (hat mir zwanzig Francs gebracht) und ein zufälliger Passant, merkwürdiger Typ! Gestern klingelt es an meiner Tür, war der Metzger, der im Stockwerk unter mir wohnt, der ihn hergebracht hat. Der Typ hat Blut auf dem Hemd. Ist aschfahl. Ist vor meiner Fleischbank zusammengeklappt, sagt der Metzger zu mir. Ich lass die beiden eintreten. Fange an, den Burschen abzuhorchen.
    Also gut, ich geh in meinen Laden zurück, macht der Dicke, und ich bin mit dem Patienten allein, der kein Wort sagt. Man könnte meinen, er habe Angst … Ist immerhin gut angezogen, aber sein Hals schwer dreckig, und er riecht nach altem Schweiß.
    Ich frage ihn aus: Na, was ist denn mir dir passiert, Alter? Er zögert und sagt zu mir: Es ist der Magen! Ich hab Magengeschwür. An seinem Akzent errate ich, dass er Russe oder Pole ist. Ich stelle bald fest, dass kein Zweifel sein kann, es ist ein Magengeschwür, starke Hämatemesis, Blut ist rot, aber ohne Luftbläschen und auch nicht schaumig.
    Es geht ihm allmählich besser. Also reden wir. Er sagt, er sei Maler, heiße Chaim (er spricht es mit einem kehligen »ch« aus) Soutine, komme gerade aus Amsterdam zurück, wo er hingefahren sei, um Rembrandts Gemälde zu sehen; er sei auf dem Batignolles-Friedhof herumspaziert, als er plötzlich kotzen musste und Blut spuckte …
    Er sagt mir, dass er aus Wilna stamme, eine elende Kindheit in einem jüdischen Dorf in Litauen gehabt, davon geträumt habe, Maler zu werden, doch dass das in der Umgebung unmöglich sei. Die Rabbiner verbieten es, er aber schere sich einen Dreck um die Religion! …
    Ob ich Rembrandts Jüdische Verlobte kenne? Aber sicher, sag ich. Da legt er los über die Techniken des Meisters: An den Ärmeln hat er mit den Fingern gemalt … Und dann vergleicht er die Verlobte mit einem Vers des Hoheliedes: Bewohnerin der Gärten, Gefährten lauschen deiner Stimme, lass auch mich sie hören …
    Und er macht weiter, kommt immer mehr in Fahrt. Die Anatomiestunde? Klar, dass ich die kenne … Und der aufgehängte Hahn … und die Nachtwache … und der gehäutete Ochse? Ja! Ja! Ja!
    Die Auflösung ist das Werden für die Hindus, sage ich zu ihm … Er antwortet mir: Die Liebe ist stark wie der Tod!
    Der Abend ist da, wir reden immer noch. Mit seinem Magen kann ich ihm nicht raten, essen zu gehen. Ich geb ihm etwas Bismut und Pillen, um die Schmerzen zu stillen.
    Wir diskutieren über Fleisch … Frauen … Dreckzeug … er beschreibt einen abgehäuteten Hasen … ich spreche von afrikanischen Leichen … fauligem Fleisch … Frauen …
    Wir können den Abend nicht einfach so abbrechen, also hab ich ihn in den Puff mitgenommen …
    Immer herzlich Louis
    Warum auch nicht. Der Zufall ist nicht vernünftig, und er hat gute Gründe dafür. Nichts ist wirklich vernünftig, vielleicht noch der Traum. Destouches? Schon einmal gehört. Als ihm ein Kumpel 1937 in der Coupole ein Foto vor die Nase hält, erkennt er den Arzt in Clichy sofort wieder und erschrickt. Aber es steht ein anderer Name darunter. Doktor Destouches, Doktor der Medizin der Pariser Fakultät, trägt nun den Vornamen seiner Großmutter als sanftes weibliches Pseudonym: Céline. Er hat seine kaputte Praxis aufgegeben, katapultiert sich zähnefletschend in hohem Bogen aus Clichy heraus und schreibt noch im Flug einen dicken Roman:

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