Soutines letzte Fahrt: Roman (German Edition)
Fahrt – aber wohin? Die schwarzen Wölfe auf den Motorrädern, die Gürtelschnallen mit dem hämischen GOTT MIT UNS, die Seitenwagen, Ledermäntel. Er erinnert sich, dass Marie-Berthe ihm ein kleines Kreuz an einem Kettchen um den Hals hängte und ihm zuflüsterte, Gott sei für ihn gestorben. Und er greift sich an den Hals, findet aber nichts mehr, keine Kette, kein Kreuz.
Die Zeit war lang, aber sie muss doch irgendwann eintreten. Komm, Nacht. Aber sie kommt nicht. Nur dieses weiße Schimmern zwischen den Lamellen der Rollläden. Dieses Flimmern vor den Augen, der Schneefall, der ihn zum Schlafen bewegen will. Wer schneit hier so viel, damit er schlafen kann? Bei der nächsten Ebbe, als nur noch ein leises Gurgeln in unsichtbaren Röhren zu hören ist, geht er wieder hinaus, geht den Flur entlang Richtung Fenster, und es ist nicht einmal eine weiße Nacht, wie die Nordländer sie kennen, er hat die Russen im Bienenstock davon schwärmen hören. Keine Mitternachtssonne. Nur ein seltsam strahlendes weißes Schneelicht.
Noch immer ist keine Seele auf dem Flur. Er tritt ans Fenster, fährt zart mit dem linken Zeigefinger über den weißgestrichenen Fenstersims, zeichnet gedankenlos mit dem anderen Zeigefinger die Kanten der gegenüberliegenden Klinikgebäude nach – und zuckt zurück. Als ob sich sein Finger an die Worte von Doktor Bog erinnert hätte.
Er ertappt sich, seine Zeigefinger ertappen ihn. Malen war ihm hier nicht erlaubt. Er war geheilt. Die absolute Schmerzfreiheit. Nicht einmal ein paar Linien, die der Zeigefinger auf das Fensterglas skizzierte? Wie damals im baltischen Sandboden unter den Kiefern, als er mit einem spitzen Tannzapfen die wildesten Porträts zeichnete? Hier war nur das Fensterglas, das nicht einmal ein winziges Zeichen zurückbehielt, so sehr war es frei von Schmutz und Staub.
Er tritt mit einer schuldigen Enttäuschung zurück vom Fenster, steigt hinauf im schmalen Treppenhaus am Ende des Flurs. Die Klinik ist unermesslich weit und in ihrer Anlage undurchsichtig, die gewölbten Türen und Wandschränke auf den Fluren zahllos. Selbst bei Ebbe der Geräusche ist er erstaunt, nie einem anderen Patienten zu begegnen, oder einem gestrengen Pfleger, der ihn in sein Zimmer zurückweisen würde.
Er beginnt übermütig zu werden, dringt im oberen Stockwerk, wo er bereits das Zimmer mit der Holzpuppe und das Verschwörerkomitee um den Konditorjungen belauscht hatte, in mehrere Zimmer ein. Keine Seele, alle Räume leer. Grelles weißes Licht. Dann öffnet er noch eines, in dem er ebenfalls Leere vermutet, und erschrickt. In einem blendendweißen Kubus stehen, akkurat hintereinander aufgereiht, gerahmte und ungerahmte Leinwände auf dem Boden. Dutzende und Aberdutzende, das Zimmer ist fast voll davon, nur schmale Pfädchen zwischen den Reihen erlauben es, dazwischenzutreten. Sie waren sorgfältig hier abgestellt worden – aber von wem? In einer Klinik, wo das Malen strengstens verboten war?
Er beginnt schüchtern mit zwei Fingern die eine Leinwand von der andern abzuheben und schaut sich das Sujet an. Ein ungeheurer Schock packt ihn. Das kann nicht sein! Er glaubt wahnsinnig zu werden, als er seine eigenen Bilder wiedererkennt, aber nicht jene, die er Guillaume oder Barnes oder den Castaings verkauft hat, sondern es sind ohne Zweifel jene, die er in seinem Leben eigenhändig zerstört hat, aufgeschlitzt in der Wut des Ungenügens, verbrannt im unbändigen Furor des Auslöschens. Hier waren sie sorgsam gesammelt, in höhnischer Vollzähligkeit. Er erkennt sogar jene, die er zuletzt noch in Champigny verbrannt hat, kurz vor der Fahrt in die Klinik von Chinon, im qualmenden, schlecht ziehenden Kamin des kleinen Häuschens am Eingang zum Grand Parc, an der Straße nach Pouant.
Wie nur war es möglich, dass sie sich alle hier wiederfanden, wer war der idiotische Aufsammler all der Opfer seiner Zerstörungswut? Kann aus Asche und Leinwandfetzen je wieder etwas Ganzes werden? Er glaubte nicht an die Auferstehung, auch nicht an die Auferstehung zerstörter Bilder. Nicht einmal sie durften auf den Maschiach hoffen. Oder hatten auch die Bilder ein Mandelknöchelchen, das unzerstörbar ist? Hier waren sie säuberlich aufgereiht als ein komplettes Register seiner zerstörerischen Untaten.
Die ganzen Hekatomben aus der Zeit in Céret, alles erhalten, alles aufbewahrt! Was Zborowski und sein Chauffeur Daneyrolles hinter seinem Rücken zusammenlasen, was feinchirurgisch von Jacques restauriert worden
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