Souvenirs
nicht, warum ich den Gedanken an die drei Söhne mit ihrer Mutter im Lokal spontan so deprimierend fand. Vieles war schwerfällig geworden in unserer Familie. Die Bindungen waren lose geworden, aber wodurch? Mein Vater und seine Brüder verstanden sich nicht übermäßig gut, und ich hatte zu meinen Onkeln kein wirkliches Verhältnis. Die trübselige Gegenwart wischte die Erinnerungen an eine vergnügte Kindheit hinweg, und ich konnte nicht genau unterscheiden, ob ich in meiner Unschuld die Vergangenheit verklärte oder ob die Wirklichkeit tatsächlich freudloser geworden war. Mir kam auch der Gedanke, dass mein Großvater ein charismatischer Patriarch gewesen war und dass die Familie nach seinem Tod emotional auseinanderfiel. Und die Dinge sollten noch schlimmer kommen. Meine Onkel rückten an, um zusammen mit meinem Vater im Rahmen eines düsteren Mittagessens den Geburtstag ihrer Mutter zu begehen. Der Höhepunkt dieser Düsternis war zweifelsohne, als eine Gruppe schlecht bezahlter Servicekräfte die Torte hereintrug und übertrieben gute Billig-Stimmung machte.
Vielleicht verlief das Essen auch freudvoller. Ich war schließlich nicht dabei. Aber ich denke mir die Sachen auch nichtaus. Es hatte sich eine solche Trägheit breitgemacht, nach dem Vorbild des Gesprächs mit meinem Vater über das Geburtstagsgeschenk. Es war, als hätte die Gebrechlichkeit meiner Großmutter auch alle anderen befallen; als würden die Schuldgefühle, die alle plagten, weil man sie gegen ihren Willen dem Altenheim ausgesetzt hatte, den Weg zurück in die Leichtigkeit versperren. Wir schoben uns alle auf einer schmalen Straße vorwärts, die Wände links und rechts kamen immer näher, wir wurden unausweichlich in die Enge getrieben. Ich war am Ende meiner Kräfte. In Augenblicken, in denen ich so niedergeschlagen war, träumte ich oft davon, jemanden zu haben, zu dem ich ein bisschen Vertrauen hatte. Von einer Frau, die mir Unterschlupf bot oder schlicht eine Verbündete war. Mein Herz glich einer herausgesprungenen Fahrradkette; ich hatte lange genug im Leerlauf getreten; ich wollte, dass mein Herzschlag endlich irgendeinen Zweck erfüllte. Von der Liebe versprach ich mir alles.
Am Tag nach dem Geburtstag meiner Großmutter holte ich sie um dreizehn Uhr dreißig ab. Die meisten schliefen, es herrschte Mittagschlafatmosphäre, und wir stahlen uns davon wie Diebe. Einer Frau dieses Alters mit einer Überraschung aufzuwarten, ist keine leichte Sache. Sie wollte, bevor sie aus dem Haus ging, unbedingt wissen, wo wir hinfuhren.
«Das wirst du gleich sehen, es ist nicht weit. Verlass dich einfach auf mich.»
«Na gut …»
«Und wenn es dir nicht zusagt, bring ich dich wieder her. Keine Sorge.»
Zwar stand ihr ein dezentes Schmollen ins Gesicht geschrieben, aber sie hatte sich hübsch gemacht. Sie trug ihr Lieblingskleid, das für besondere Anlässe, also dasselbe wie bei der Beerdigung von Sonia Senerson. Ich war gleichfalls einem Friedhofsbesuch angemessen gekleidet; dadurch erhöhte sich meine Anspannung:
«Ich dachte, du wolltest zum Friseur gehen?»
«… Ich war auch dort …»
«Da merkt man aber nicht viel.»
«Du hast eben keinen Blick für so was. Da kann doch ich nichts dafür.»
«…»
Ich zog es vor, die Unterhaltung hier abzubrechen. Was meine Fähigkeiten anging, an äußerlichen Modifikationen von Frauen vorbeizusehen, wollte ich die Meinung meiner Großmutter lieber erst gar nicht hören. Dennoch murrte ich auf der Fahrt innerlich vor mich hin. Ich fand Frauen, die einen ständig fragten, ob man diese oder jene Veränderung bemerkt habe, anstrengend. Sie tyrannisieren einen mit ihrem Aussehen, man dient als Sklave, dem alles auffallen muss. Man kann sehr wohl eine Frau verehren, sie wahnsinnig, das heißt blind lieben, ohne von ihrem neuen Make-up Notiz zu nehmen. Manchmal geht es ja um Details, die mit bloßem Auge gar nicht zu erkennen sind! Es gibt Frauen, die sich entrüsten, wenn einem eine mikroskopische Bewegung, die sie soeben, als habe man ein offensichtliches Verbrechen begangen, ausgeführt haben, nicht ins Auge springt.
Man kann nun nicht behaupten, dass ich in Sachen Frauen damals viel Erfahrung besessen hätte, aber dieser fanatische Narzissmus, der in Zusammenhang mit dem Aufkommen von großen Gefühlen zu stehen schien, war mir schon aufgefallen. Der Eindruck, geliebt zu werden, erzeugt keine Sicherheit, sondern vielmehr nie da gewesene verwundbare Stellen. So habe ich starke und
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