Souvenirs
verschwunden, und da sie sehr oft hierherkam … dachte ich … dass Sie vielleicht etwas wissen könnten …»
«Wie ist denn ihr Name?»
Ich nannte den Namen, aber der sagte der Friseuse nichts. Ich begann, das Äußere meiner Großmutter zu beschreiben und einige unveränderliche Kennzeichen aufzuzählen. Immer noch nichts. Der Friseuse dämmerte vage etwas, mehr aber nicht. Schließlich wühlte ich in meiner Tasche nach den Zetteln vom Vortag, und in Anbetracht des Fotos drängte sich ihr der Eindruck auf: Sie hatte meine Großmutter noch nie gesehen.
«Sind Sie sich sicher?»
«Ja … na ja, ich hab schon auch viel Laufkundschaft … aber warten Sie mal … kann ich den Zettel noch mal sehen … ach doch, sie war da … das ist schon ein paar Monate her, jetzt fällt es mir wieder ein … eine sehr nette Frau …»
«Das ist Monate her? Und danach war sie nicht mehr hier?»
«Nein, danach hab ich sie nie mehr gesehen.»
«Danach war sie nicht mehr da? Sind Sie sicher?»
«Hm ja … ich bin manchmal ein bisschen abgespannt, aber ich ticke eigentlich noch ganz richtig. Ich erinnere mich an die Leute, denen ich die Haare schneide.»
«Sind Sie sich sicher?»
«Wollen Sie es auf Chinesisch hören, oder was!?»
«…»
Es trat ein Schweigen ein, doch plötzlich vernahm ich ein Geräusch aus dem Hinterzimmer, ganz leise, als hätte es sich um ein Versehen gehandelt. Ich musste auf der Stelle wissen, was das war:
«Ist noch jemand hier?»
«… Ja, meine Tochter.»
«Ihre Tochter? Sie ist da … hinter dem Vorhang?»
«Ja, meine Tochter … sie spielt da.»
«Sie spielt?»
«Hören Sie, junger Mann … ich verstehe nicht recht, worauf Sie hinauswollen …»
«Darf ich mal nachsehen?»
«Was?»
«Hinter dem Vorhang. Ich würde gern mal hinter dem Vorhang nachsehen.»
«Haben Sie noch alle Tassen im Schrank!?»
«Bitte.»
«Ich glaube, Sie sollten jetzt besser gehen.»
«Ich bitte Sie.»
«Und ich bitte Sie zu gehen!»
Sie sah mir tief in die Augen. Ich machte gewiss einen komischen Eindruck, aber ich hatte nichts Furchterregendes an mir. Sie spürte wohl die Aufrichtigkeit meines Anliegens, denn sie meinte schließlich: «Na gut, einverstanden.» Ich schritt auf den Vorhang zu und glaubte, dahinter sei nun meine Großmutter, die sich von Anfang an hier versteckt gehalten hatte. Dieses Geräusch, das konnte ja nur siesein. Angesichts meiner Angst und Verzweiflung hatte die Friseuse beschlossen, alles zu gestehen. Sie hatte sich noch ein bisschen gesträubt, aber dann hatte sie eingesehen, dass es besser war, dem Spektakel, das überhaupt nicht witzig war, ein Ende zu bereiten. Ich schritt auf den Vorhang zu, zog ihn langsam beiseite, ganz langsam, und erblickte ein kleines Mädchen, das am Boden hockte und mit einer Puppe spielte.
Wortlos wich ich zurück und verließ ebenso wortlos den Salon. Ich hatte es für möglich gehalten, ein paar Augenblicke lang. Ja, ich hatte mich dem Vorhang in der Gewissheit genähert, sie befände sich dahinter, und nun ging mir auf, wie absurd dieser Glaube gewesen war. Was hätte sie denn in dem kümmerlichen Hinterzimmer eines kleinen Friseursalons machen sollen? Ich war so dämlich. Ich stieg in die S-Bahn, Richtung Reihenhaussiedlung meiner Eltern, und wurde das Gefühl der Lächerlichkeit auf der ganzen Fahrt nicht los. Erst als ich ankam und in das Gesicht meines Vater sah, wurde mir schlagartig alles klar.
∗ Nebenbei bemerkt, es gibt da eine Frage, die mich sehr beschäftigt und auf die ich kurz eingehen will: Warum kann sich niemand an seine frühe Kindheit erinnern? Weil das Gehirn eben noch nicht ausgereift ist, die Physiologie hat viele Erklärungen für dieses Phänomen. Aber ich will mich nicht damit abfinden, dass es sich dabei um einen willkürlichen Umstand handelt. Es muss einen Grund dafür geben. Die Kindheit ist meist das Gefilde primitiver Freuden, und für viele das Paradies der einfachen und leicht zu befriedigenden Bedürfnisse. Bestimmt würde es Risiken bergen, könnte man sich an all das erinnern. Ich glaube, man könnte nie erwachsen werden, wenn das Bewusstsein von der Erinnerung an dieses Glück beeinträchtigt wäre. Wir wären vollkommen gelähmt von einer einfältigen Nostalgie.
30
Marilyns Erinnerungen
Es ist noch gar nicht so lange her. Da trat ein junger Mann in ihr Geschäft und sagte mit zitternder Stimme: «Es mag Ihnen komisch vorkommen, aber ich wollte fragen, ob Sie noch die Haare der Frau haben, die Sie eben
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