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Souvenirs

Souvenirs

Titel: Souvenirs Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Foenkinos
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davongelaufen. Ja, am liebsten hätte ich die Flucht ergriffen. Das Leben lag doch noch vor mir. Ich musste ein Buch schreiben (mein wackliges Alibi). Ich wollte mich für nichts verantwortlich fühlen müssen, für gar nichts. Ich wollte aus dem Gedächtnis der anderen gestrichen werden. Und während mir all diese Gedanken durch den Kopf gingen, fiel mir unvermittelt ein, dass alle in unserer Familie diese Rückzugstendenzen gemein hatten.
     
    Ich schlich mich, ohne anzuklopfen, vorsichtig hinein. Als ich auf dem Gesicht meiner Mutter ein breites Lächeln erkannte, atmete ich auf. Was mein Vater mir mit auf den Weg gegeben hatte, hatte mir Angst gemacht. In dem Moment, in dem ich meiner Mutter tatsächlich gegenüberstand, war alles nicht so schlimm wie befürchtet. Sie schien glücklich, mich zu sehen. Obwohl sich, ohne dass ich wirklich hätte sagen können warum, unsere Beziehung merklich abgekühlt hatte. Wahrscheinlich hat sie mich als Kind nicht oft genug an ihr Herz gedrückt, sodass ich die Zuneigung, die sie mir jetzt hier und da entgegenbringt, nicht so einfach erwidern kann. Doch diesmal hielt ich sie lange im Arm und setzte mich dann auf die Bettkante. Mein Blickwinkel auf ihre entspannte Miene sollte sich rasch ändern. Das war nicht ihr wahres Ich, das war vielmehr eine Frau unter (medikamentösem) Einfluss. Wieder einmal wusste ich nicht, was ich sagen sollte. Also sah ich mich im Zimmer um, betrachtete es in allen Einzelheiten und suchte es wie ein Schiffsbrüchiger, der nach einem Rettungsring Ausschau hält, nach einem möglichen Gesprächsgegenstand ab. Auf dem Nachttisch stand eine goldene Ikone, bestimmt die Darstellung einer Heiligen, und das erstaunte mich. Meine Mutter war immer gern in Kirchen gegangen, hatte sich für deren Bauweise interessiert und, wie ich bereits sagte, mochte sie auch religiöse Rituale. Doch all das hing mit keinem wie auch immer gearteten Glauben zusammen. Sie konnte im Gegenteil ziemlich heftig werden bei dem Thema, die Haltung, die sie vertrat, war stets: «Religion ist was für Schwache.» Ich glaube, sie zitierte dann Nietzsche. Insofern wunderte ichmich über die Ikone auf ihrem Nachttisch, die von einem radikalen Glaubensumschwung zeugte, um nicht zu sagen, von einem unbewussten Eingeständnis urplötzlicher Schwäche. Sie hielt sich so gut es ging an kleinen Figuren und Bildern fest, in der Hoffnung, sie mögen ihr in ihrer Verzweiflung beistehen. Sie von ihrer quälenden Leere heilen. In vereinzelten lichten Momenten fragte sie sich, was eigentlich los war mit ihr, und dann sagte sie leise
Ich habe Angst
vor sich her.
     
    In ihrer langen Lehrerinnenlaufbahn hatte sie öfter mitbekommen, dass manche der Kollegen unter Depressionen litten. Ausgebrannt und erschöpft fuhren sie auf Erholungskur. Ihr Beruf war schwierig, nervlich belastend, aber sie hatte nie nachvollziehen können, was einen so aus der Bahn schleudern konnte. Wie man von heute auf morgen seine mentalen Ämter niederlegen konnte. Daran erinnerte sie sich in diesen endlos scheinenden Tagen, an denen sie dalag und die Angst vor der nächsten Minute ihre einzige Gesellschaft war. Sie fragte sich, warum sie sich so elend fühlte. Keine Vorboten hatten diese Prüfung, der sie sich nun zu unterziehen hatte, angekündigt. Nicht einmal ansatzweise. Sie hatte sich das Rentnerdasein wie ein Vergnügungseldorado vorgestellt. Die letzten Jahre hatte sie sich so auf die Zeit gefreut, die sie endlich ihren Hobbys widmen konnte: Spazieren gehen, Lesen, Reisen, Schlafen. Das totale Glück. Keine aufgekratzten Schülerhorden mehr (im Laufe der Jahre waren sie immer aufgekratzter geworden; die Lehrer des neuen Jahrtausends taten ihr leid), keine Schularbeitenmehr zu korrigieren am Sonntagabend, keine aggressiven Eltern mehr. Als ihr letztes Schuljahr sich dem Ende zuneigte, wurden ihre Leistungen gewürdigt, und bei ihrem Abschiedsumtrunk waren alle, wie zu vernehmen war,
sehr ergriffen.
Das ganze Kollegium hatte zusammengelegt für einen Geschenkgutschein, einzulösen in einem bestimmten Reisebüro, jetzt könne sie aufbrechen,
wohin sie wolle und wann immer sie wolle.
Sie räumte ihr Fach leer, schloss es ein letztes Mal ab und versprach, wie alle Beschäftigten es zum Abschluss ihrer Berufslaufbahn tun, ab und zu vorbeizuschauen, um zu hören, wie es so lief. Ihre Krankheit verhinderte dies nun. Es wäre wahrscheinlich sowieso genauso abgelaufen wie bei meinem Vater: Sie wäre ein paarmal gekommen, bevor sie

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