Souvenirs
einsah, dass sie und die Kollegen nichts mehr zu besprechen hatten. Und mit den ehemaligen Schülern wäre es das Gleiche gewesen. Lehrer sind immer ganz aus dem Häuschen, wenn sie ihre alten Schüler wiedersehen, sind begierig zu wissen, was aus ihnen geworden ist, aber wenn diese Frage einmal geklärt ist, bleibt nicht viel zu sagen. Die Vergangenheit liefert nicht mehr als zehn Minuten Gesprächsstoff. Meiner Mutter wäre dies sicherlich recht bald aufgefallen, und womöglich hatte sie schon vorab Trauer über diese Art des Niedergangs empfunden, der sie durch die Depression aus dem Weg ging.
Gegen Ende des Sommers hatte sie gespürt, dass sich etwas in ihr zusammenbraute. Am Anfang hatte sie geglaubt, das hing mit der Erschöpfung durch die Reisen zusammen, aber das konnte es nicht sein, sie hatte viel geschlafen, seitdemsie wieder zurück war. Es war wie ein dunkler Fleck, der sich in ihrem Kopf und auf ihrem Körper ausbreitete. Genau. So fühlte es sich an: wie ein dunkler Fleck. Ein etwas vager und schwammiger Begriff, aber der Einzige, der ihr in den Sinn kam, um das zu beschreiben, was ihr mehr und mehr zusetzte. Sie sprach nur noch ganz leise, begann, Selbstgespräche zu führen, war zu einer Unterhaltung mit meinem Vater nicht in der Lage. Sie wollte nicht mehr mit ihm reden. Das gestand mir mein Vater irgendwann. Die spätere Version meiner Mutter ging so: Es habe angefangen, als sie meinen Vater einmal einen gesamten Tag vor dem Fernseher fläzen sah, und dieser Anblick hätte das Fass zum Überlaufen gebracht. Zum ersten Mal seit vierzig Jahren hatte im September nicht die Schule angefangen. Sie hatte es nicht für möglich gehalten, dass der Körper sich derart an einen Rhythmus gewöhnen kann. Sie verbrachte einen Vormittag damit, Schränke aufzuräumen, alte Bücher auszusortieren, Mittagessen zu kochen. In der gleichen Zeit tat mein Vater nichts, rein gar nichts, nicht die leiseste Regung. Er lag trübselig vor dem Fernseher und guckte sich Teleshopping an. Schien sogar begeistert von dieser Maschine, mit der man im Schlaf Sport treiben konnte. Einen Augenblick lang betrachtete er seinen Oberkörper und versuchte, sich vorzustellen, wie man die Saugnäpfe anbrachte. Meine Eltern erlebten die Morgenröte ihres Rentnerdaseins, und es hätte wundervoll sein können. Mein Vater hätte vorschlagen können: «Komm, lass uns spazieren gehen … lass uns zum Essen ans Meer fahren, nach Honfleur … lass uns ins Kino gehen …», aber nichts dergleichen, erergab sich träge in die neue Situation. Die sich einstellende Trostlosigkeit war ein brutaler Schock. Für gewöhnlich höhlt die Leere die Tage etwas hinterhältiger aus und drängt sich nicht von vornherein auf. Wie also sollte es weitergehen? Was sollte nun passieren? Die einzigen Unternehmungen meines Vaters bestanden darin, meine Großmutter im Altenheim zu besuchen. Wenn er von dort zurückkam, wirkte er verstört. Jahrelang hatten meine Eltern ihren Überdruss mit ihrem Berufsleben zugedeckt. Jetzt waren sie dem nackten Leben ausgesetzt, und keiner von beiden brachte die Energie auf, irgendwelche Illusionen zu wecken. Dabei, und davon bin ich fest überzeugt, liebten sie sich immer noch. Gewiss hatte ihrer Liebe nie etwas Überschäumendes angehaftet. Und ich hatte schon gemerkt, dass ich nicht die Frucht einer ungezügelten Leidenschaft war. Aber diese Liebe existierte. Sie war noch da, in dem verängstigten Blick meines Vaters, der sich auf die neuen Umstände einstellte.
Vielleicht ist dies der rechte Moment, um zu erzählen, wie sich meine Eltern nach ihrer merkwürdigen ersten Begegnung wiedersahen.[ ∗ ] Nach der seltsamen Anwandlung, die der Anblick des Mädchens bei ihm ausgelöst hatte, war mein Vater nach Hause gegangen. In der Beschaulichkeit seines Zimmers wurde sein Kopf wieder ein Stück klarer. Wie warer, das erschreckende Musterbeispiel für Diskretion, dazu gekommen, auf dieses Mädchen zuzustürmen? Was war so Besonderes an diesem Gesicht, dass sein Herz so aufgewühlt war? War er da plötzlich einem früheren Leben auf der Spur? Oder war es das, was die Leute Liebe auf den ersten Blick nennen? Wenn ja, weshalb war er geflüchtet und hatte nicht versucht, sie kennenzulernen? Und wieso hatte er diesen Satz zu ihr gesagt? Sein Herz schlug in wunderlichen Frequenzen, und er verlor, verständnislos für die eigenen Gefühle, den Boden unter den Füßen. Die Tage vergingen, ohne dass seine Gedanken aufhörten, um dieses
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