Souvenirs
geschnitten haben … das war nämlich meine Freundin, und ich liebe ihre Haare … Deswegen finde ich es blöd, wenn man sie einfach so wegwirft … Also wenn sie noch da sind, würde ich sie gern mitnehmen …»
31
Ich mag keine Reihenhaussiedlungen. Sie sind mir unheimlich. Ich mag Landhäuser und Stadtwohnungen. Ich mag es, wenn man sein Gebiet selbst absteckt. Ich weiß nicht, warum ich mitunter so aggressiv werde, wenn ich mir vor Augen halte, wie das Leben meiner Eltern im Einzelnen aufgebaut ist. Ich könnte demütigende Hasstiraden auf Reihenhaussiedlungen schreiben, voller Geringschätzung Reihenhauspamphlete verfassen, Theorien spinnen hinsichtlichder Berufsgruppen, deren Leben in so geordneten Bahnen verläuft, dass sie diese Kolonien bevölkern müssen, was weiß ich, ich könnte mich jedenfalls aufregen. Wo es mir doch im Grunde egal ist. Sie sind mir vollkommen egal, diese Reihenhaussiedlungen. Manchmal gerate ich in solche Wallungen, ich kann das nicht kontrollieren, aber ich beruhige mich dann wieder. Es geht vorbei, ist nichts Schlimmes, ich wollte doch bloß meine Eltern besuchen.
Ich klingelte. Und sah meinen Vater, wie ich ihn noch nie gesehen hatte. Sein Kiefer war heruntergeklappt; jeden Tag klappte er ein wenig weiter nach unten. Der Eindruck täuschte nicht: Er machte Pausen zwischen seinen Worten, zwischen den Handlungen, die er ausführte. Unterbrach jede Aktion hundert Mal, was so wirkte, als würden seine abgehackten Bewegungen in gar keinem richtigen Zusammenhang stehen. Wie im Fernsehen, wenn bei einer Sendung der Empfang schlecht ist. Ich klopfte meinem Vater jedoch nicht sinnlos auf den Rücken, wie man es manchmal in der Hoffnung, ihn so wieder in Schwung zu bringen, beim Fernseher tut (welch seltsame Methode). Nachdem er mir die Tür geöffnet hatte, dauerte es etwa zehn Sekunden, bis er mir guten Tag sagte, und dann noch eine Weile, bis er mich hereinbat.
«Ich hab Kaffee gekocht. Du trinkst doch einen Kaffee, oder?», flötete er auf dem Weg zur Küche. Ich folgte ihm durch den unbeleuchteten Flur. «Ach, ein Kaffee ist doch was Gutes. Ich mach dir einen Kaffee, hm? Das ist sehr guter Kaffee, den ich gekauft hab, der wird dir schmecken.»Wir tranken also einen Kaffee, wortlos und im Stehen. Dann fuhr er fort:
«Möchtest du was essen? Was Kleines zum Knabbern, hm?»
«Nein … danke, ich hab keinen Hunger.»
«Ach echt, sicher? Also ich hätte wirklich alles da. Du solltest etwas essen. Das tut gut. Hast du echt keinen Hunger?»
«Na gut … einverstanden …»
Erleichtert öffnete er einen Schrank und griff nach einer Dose. Die Tatsache, dass ich mich bereit erklärt hatte, einen Keks zu essen, bedeutete für ihn, dass er noch unter den Lebenden weilte.
«Wie läuft’s?», fragte ich ihn.
«Na ja, ganz gut eigentlich.»
«Das mit Mama hättest du mir auch eher erzählen können.»
«Magst du noch einen Keks? Ich glaube, die schmecken dir, oder?»
«Ja danke. Die sind sehr gut.»
«…»
«Und das mit Mama? Warum hast du nichts gesagt?»
«Ich hab das auch nicht so richtig mitbekommen. Das ging irgendwie schubweise, aber auch ganz schnell … ich hab schon früh gemerkt, dass irgendwas mit ihr war … aber an anderen Tagen war sie dann wieder vollkommen normal. Also mir war das auch nicht so ganz klar.»
«Schläft sie?»
«Sie ist in ihrem Zimmer. Ich glaube, sie ruht sich aus. Sie bekommt jetzt Antidepressiva.»
«Weiß sie, dass ich hier bin?»
«Ja, ich hab’s ihr gesagt.»
An die Sache mit meiner Großmutter dachten wir in dem Augenblick beide nicht. Die drückende Stimmung, die im Hause meiner Eltern herrschte, machte mich so ratlos, dass ich vergaß, ihm zu sagen, was mir nach meinem Besuch bei der Friseuse klar geworden war. Die dicht gedrängten Ereignisse der vergangenen Tage brachten mich ganz durcheinander. Es war ein eigenartiges Gefühl, so lange Jahre von überhaupt keinen Problemen behelligt zu werden, ein wenig aufregendes, aber friedliches Familienleben zu führen, und dann plötzlich mit mehreren Dramen gleichzeitig konfrontiert zu sein. Es kam mir so vor, als wäre das die Quittung für die Jahre, die wir in dumpfer Sorglosigkeit dahingelebt hatten. Das war sicher alles ein bisschen zu viel auf einmal. Ich war auf der Suche nach meiner Großmutter, ich war in gewisser Weise dabei, meine Mutter zu verlieren, doch anstatt nun diesen Flur zu ihrem Zimmer hinunterzugehen, hätte ich lieber die Beine unter den Arm genommen und wäre
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