Souvenirs
Mädchen zu kreisen. Er hatte keinerlei Informationen über sie, somit würde er sie auch nicht wiederfinden. Er dachte, die einzige Chance sei, ihr vor der Kirche aufzulauern und darauf zu warten, dass sie eines Tages wieder herauskäme (während ich dies niederschreibe, wird mir auf einmal bewusst, dass ich es ihm ja gleichtat, als ich Jahre später regelmäßige Einkehr an einem Grab hielt, an dem ich hoffte, einer Unbekannten zu begegnen. Ich fasse es nicht. Drängte mich womöglich mein Unterbewusstsein dazu, diese Geschichte zu wiederholen, die ich in- und auswendig kannte? Das hieße, mein Vater, der mir nie irgendetwas vermittelt hat, übt im Verborgenen einen Einfluss auf mich aus, der sich auf meine Verhaltensweisen auswirkt, es gibt etwas Unsichtbares, das uns verbindet). Tag für Tag machte er sich auf zur Kirche. Vergebens. Meine Mutter hatte diesen Ort nur einmal aufgesucht und plante nicht, ihn ein zweites Mal aufzusuchen. Ich weiß nicht, wie lange mein Vater unverdrossen dieser diffusen Spur folgte, aber ich weiß, dass er diese leicht irrationaleKomponente seines Lebens genoss, diese Komponente, von deren Existenz niemand wusste. Er galt allgemein als ernster junger Mann, der am Anfang einer hübschen Bankkarriere stand. Niemand konnte ahnen, dass sein Herz in einem etwas eigenwilligen, um nicht zu sagen dämonischen, Takt schlug. Manchmal kam ihm der Gedanke, dass das ganze Unternehmen lächerlich war: ‹Es ist verrückt von mir dahin zu gehen. Ich werde sie nie wiedersehen. Aber es gibt Schlimmeres: Zum Beispiel bin ich mir nicht sicher, ob ich in der Lage sein werde, sie anzusprechen, wenn sie kommt. Das ist doch alles absolut sinnlos.› Er kam schließlich mit sich überein, nicht mehr hinzugehen. Doch wollte er dem Zufall noch eine letzte Chance geben.
Sie tauchte natürlich nicht auf. Aber an jenem Tag geschah etwas. Es fand eine Hochzeit statt. Mein Vater beschloss, sich unter die Schar der Gäste zu mischen. Den Freunden der Braut sagte er, er sei ein Freund des Bräutigams; und den Freunden des Bräutigams sagte er, er sei ein Freund der Braut. Es war eine schöne, bewegende Trauung, die Art von Hochzeit, die Lust macht, selbst zu heiraten. Die Braut war bezaubernd, eine junge Russin, welch Pleonasmus. Der Bräutigam schien sich seiner Frau zuliebe den orthodoxen Bräuchen zu beugen, und man konnte trotz des üppigen Weihrauchs den Odem des Glücks riechen, den er verströmte. In dem Moment, als die Gemeinde die Kirche verließ, trat eine Frau an meinen Vater heran:
«Sie gehören aber nicht zu den Leuten, die hier eingeladen sind.»
«Wie? Aber selbstverständlich bin ich …»
«Ich bin auch nicht eingeladen. Aber ich finde orthodoxe Hochzeiten so schön, deswegen schleiche ich mich ein.»
«Aber ich bin doch eingeladen …»
«Jetzt hören Sie schon auf mit Ihrem Getue, ich sage Ihnen doch, dass ich selbst nicht eingeladen bin. Im Übrigen wäre es viel unauffälliger, wenn wir zu zweit auftreten würden. Zusammen könnten wir ein wirklich glaubhaftes Bild abgeben.»
So machte er Bekanntschaft mit Agathe. Und ich kann es ruhig gleich sagen: Das ist der Anfang der Menschenkette, die meinen Vater und meine Mutter zusammenführen sollte. Agathe war eine junge Schauspielerin mit einem besonderen Faible für Improvisationstheater. Jeden Montagabend spielte sie mit ihrer Truppe. Aus einem Hut wurden die Lose gezogen, die über abenteuerliche Improvisationsthemen wie «Risotto und Gestapo» oder «Venedig und Alzheimer» entschieden. Und es ging darum, eine Situation zu kreieren. Agathe lud meinen Vater ein, zu einem dieser Abende zu kommen. Fasziniert und begeistert von diesen jungen Leuten, diesen wahren rhetorischen Genies, die aus dem Stegreif irgendwelche Geschichten zu ersinnen vermochten, entwickelte er sich zu einem eifrigen Zuschauer. Montagabends driftete seine Bankierslaufbahn ins Künstlerische ab; er erholte sich von den Immobilienkrediten. Ich weiß weder, wie oft er dieses Theater besuchte, noch in welcher genauen Beziehung er zu Agathe stand,
der entscheidende Augenblick
kam jedenfalls ziemlich bald. Inmittenseiner Improvisation zum Thema «Romantik und Sodomie» warf ein Schauspieler sich einem Mädchen zu Füßen und rief aus: «Sie sind so schön, dass ich Sie nie mehr wiedersehen will.» Mein Vater traute seinen Ohren nicht. Das war
sein
Satz. Wie war es möglich, dass dieser Kerl exakt die gleichen Worte benutzte? Nach der Aufführung ging er auf ihn zu und
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