Souvenirs
optimistisch, er wusste, die Besatzungszeit würde bald zu Ende gehen. Und er hatte recht. Paris wurde befreit. «Es war eine unbeschreibliche Freude», sagte meine Großmutter zu mir. Ich werde also nicht versuchen, sie zu beschreiben.
Nach einigen turbulenten Monaten, in denen die Rädelsführer einer untergegangenen Welt wie die Hasen um ihr Leben rannten, ordnete sich das Leben in der Stadt neu. Mein Großvater bekam einen Orden. Seine Frau wohnte verdutzt der Feierlichkeit bei, bei der er als «großer Widerstandskämpfer» gerühmt wurde. Das Ganze hätte eine Ehre sein sollen, aber es behagte ihr gar nicht, auf diese Weise von den Nacht-und-Nebel-Aktionen ihres Mannes zu erfahren. Denn sie hatte davon nichts gewusst. Schlimmer noch: Sie hatte es nicht einmal geahnt. Er war manchmal am Abend spät nach Hause gekommen, man wusste nicht genau, wo er sich herumtrieb, sie hatte sich leidvoll vorgestellt, dass er sich vielleicht mit einer anderen Frau traf, aber dieRésistance war ihr überhaupt nicht in den Sinn gekommen. Sie kam sich vor wie ein Rindvieh. Sie fragte ihn: «Warum hast du mir nichts erzählt? Warum hast du deine Gedanken nicht mit mir teilen wollen?» Er antwortete, er habe sie keiner Gefahr aussetzen wollen. Das habe mit Vertrauen nichts zu tun. Mein Großvater hatte die großartige Gabe, immer die richtigen Worte zu finden. Der beste Beweis: Als meine Großmutter einen Schmollmund zog, meinte er:
«Im Prinzip hast du es gewusst.»
«Was? Dass du in der Résistance warst? Nein, das habe ich eben nicht gewusst.»
«Doch. Weißt du, wenn man mit dir zusammenleben will, muss man doch auch gegen alle möglichen Widerstände ankämpfen.»
Da umspielte ein Lächeln ihre Lippen, das den Missmut verscheuchte. Er gab ihr einen Kuss; und zwar auf den Mund, einen Kuss, der bereits nach den kommenden Ereignissen schmeckte. Sie hatten drei Kinder, darunter mein Vater, der selbst ein Kind zeugen sollte: mich. Das Leben ging weiter, und eine Toilettenseife tötete meinen Großvater.
Ich bekam problemlos ein Zimmer neben dem meiner Großmutter, das Hotel war ja so gut wie leer. Es dürfte wohl kurz nach Mitternacht gewesen sein, als wir nach oben gingen. Im Bett sinnierte ich natürlich weiter über das nach, was sie mir erzählt hatte, aber ich erinnerte mich auch an dieses Blatt, das sie mir gezeigt hatte: an die Liste mit den Namen der Schüler, mit denen sie in die dritte Klasse gegangenwar. Anhand dieser Liste hatte sie die Gesichter der Vergangenheit an sich vorüberziehen lassen können. Die Erinnerung an die Namen ließ in ihr die an die Gesichter wiederauferstehen. So zählte sie auf: Germaine Richard, Baptiste Amour, Charles Duquemin, Alice Zaduzki, Paulette Renan, Yvette Roudiot, Louise Chort, Paul André, Jean-Michel Sauveur, Édith Dit-Biot, Marcelle Moldivi, Renée Duchaussoy und so weiter. Sie sah all diese Kinder vor sich. Das Heraufbeschwören der Erinnerung an diese Namen hatte genügt, um einen geheimen Gang zu öffnen, der in ihre Kindheit führte. Sie beschrieb mir die Charakterzüge eines jeden Einzelnen und kannte zum Teil auch ihre Familiengeschichten. Dann war sie wieder auf den Schmerz zu sprechen gekommen, den sie empfunden hatte, als sie diese Kinder hatte verlassen müssen. Und ich begriff, wie tief diese Wunde saß, die sich nie geschlossen hatte. Ihr ganzes Leben hatte sie mit diesen Namen wie mit einem unerfüllten Schicksal gelebt. Was war aus ihnen geworden? Lebten sie noch? Die Frau vom Gemeindeamt, also dieselbe, die ich im Fremdenverkehrsbüro kennengelernt hatte, hatte ermittelt, dass von der Liste noch eine einzige Person in Étretat wohnte: Alice Zaduzki, die anscheinend ihr ganzes Leben hier verbracht hatte. Ihre Adresse hatte sie auf einem Zettel notiert. Meine Großmutter und ich hatten ausgemacht, ihr am folgenden Tag einen Besuch abzustatten. Was sie wohl für ein Gesicht machen würde, wenn meine Großmutter bei ihr aufkreuzte, siebzig Jahre, nachdem sie sich zuletzt gesehen hatten?
Der zeitliche Abstand war zwar geringer, aber als ich so in meinem Bett lag, fing ich an, auch an meine Klassenkameraden aus der Grundschule zu denken. Mir fiel eine Szene ein, in der wir darüber sprachen, wie es sein würde, wenn wir erwachsen wären. Wir beschlossen, alle zusammen in eine große Wohnung zu ziehen. Im Wohnzimmer sollten ein Flipper und ein Kicker stehen. Mir kam das damals ganz realistisch vor. Ein Teil von mir versteht immer noch nicht, warum wir
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