Souvenirs
irgendwelchen Gräueltaten berichtet hätte, aber nicht dieses schwammige Zeugs. Da ging sie in die Luft. Der Mann, den die Aufgebrachtheit dieser hilflosen Frau aufzubringen schien, ergänzte: «Vielleicht ist er desertiert und hält sich irgendwo versteckt … das kann ein Grund sein …» Das konnte sich niemand anhören. Sie wusste, zu desertieren entsprach nicht der Mentalität ihres Mannes, er würde bis zum Umfallen kämpfen. Er liebte Frankreich über alles, die sublime unsterbliche Liebe derer, die einst erfolgreich eingebürgert worden waren. Außerdem: Wäre er tatsächlich desertiert, hätte er geschrieben, damit seine Familie sich keine Sorgen zu machen brauchte. Hätte er irgendein Zeichen gesendet. Das mit der Fahnenflucht klang alles andere als plausibel.
Am 28. Oktober 1940 (meine Großmutter hat das Datum der Auslieferung noch gut im Kopf) hörten sie endlich Neuigkeiten. Er war im Gesicht verletzt und wurde im Militärkrankenhaus von Toul[ ∗ ] versorgt. Sie nahmen sich also eine Karte vor und machten sich auf gen Osten. Auf ihrem langen, gefahrvollen Weg ins Ungewisse überlegten sie, was das wohl bedeuten sollte, «im Gesicht verletzt». Mehr wussten sie nicht. Aus der Freude über die frohe Kunde wurde ziemlich schnell Angst. War das eine höfliche Umschreibung von «entstellt»? Meine Urgroßmutter war mit dem traumatischen Anblick von Körpern aufgewachsen, die der Erste Weltkrieg verstümmelt hatte. Bilder von entstellten Gesichtern ohne Augen und Münder hatten sie in ihren Nächten heimgesucht. Die Angabe «im Gesicht verletzt» musste bedeuten, dass er eine schlimme Verletzung hatte, eine sehr schlimme sogar. Ein paar Schrammen oder ausgeschlagene Zähne hätten sicherlich keine Erwähnung gefunden. Und er hätte sich bestimmt selbst gemeldet. Eine qualvolle Ungewissheit begleitete sie auf ihrer Reise nach Osten. Nachts im Traum erschien meiner Großmutter das Gesicht des Verwundeten, von dem immer ein Teil fehlte. Sie dachte, ihr Vater würde wohl nicht mehr aussehen wie zuvor. Er war soschön gewesen vor dem Krieg. Wenn man sich Fotos dieser Zeit anschaut, kann man sich die Ausstrahlung, die er gehabt haben muss, leicht zusammenreimen. Er trug ein Fliegerbärtchen, ausgeprägte Lachfalten verliehen seinem kantigen Gesicht einen weichen Ausdruck. Man konnte die Kraft dieses Mannes förmlich spüren, die mit einem sanften Blick verschmolz. Am Tag, an dem ich diese Bilder entdeckte, dachte ich mir, er ähnelte meinem Großvater.
Die beiden Frauen fanden ihn auf einer Pritsche liegend. Er hatte einen Verband um die Stirn und ein beunruhigendes Pflaster auf dem Auge. Als sie an ihm heruntersahen, entdeckten sie ein weiteres Gebrechen: Beide Beine lagen in Gips. Er war also nicht nur im Gesicht verletzt. Er war unkenntlich gemacht. Sie begannen zu weinen. Es schmerzte vor allem der Gedanke, dass er hier wochenlang allein gelegen haben musste und es niemanden gegeben hatte, der seine Hand gehalten hätte. Das Grauen wurde mit Grauen überhäuft. Sein anderes Auge stand offen, aber es wirkte wie erloschen. Er war aber nicht blind. Der Verwundete sah erst seine Frau an, dann seine Tochter, doch der Anblick schien keinerlei Reaktion in ihm auszulösen. Verzweifelt verlangten sie nach einem Doktor, der ihnen sagte, sie sollten unbesorgt sein, der ihnen irgendwas sagte, am besten nicht die Wahrheit. Aber die Ärzte hatten keine Zeit. Sie fegten wie Wirbelwinde durchs Lazarett, hatten alle Hände voll zu tun. Der Raum war überfüllt mit Verwundeten. Das Ganze glich eher einem Sterbelager als einem Militärhospital. Sie standen wie gelähmt bei diesem Mann, der sie nicht wiedererkannte,eine jede hielt ihm eine Hand, und darüber wurde es Nacht. Sie mussten gehen. Er hatte sich nicht gerührt, kein Wort gesprochen, kein Zeichen gegeben, das davon zeugte, dass er überhaupt am Leben war. Mit beklommenen Gefühlen machten sie sich auf zu einem Hotel unweit des Lazaretts. Im Vorraum des Hotels tummelten sich deutsche Soldaten. Sie lachten. Meine Großmutter ging auf sie zu und spuckte vor ihnen auf den Boden. Dieser schreckliche Leichtsinn hätte sie das Leben kosten können. Doch die offensichtlich sehr betrunkenen Soldaten lachten nur noch munterer. Als sie ihr Zimmer erreicht hatten, schlug meine Urgroßmutter außer sich vor Wut auf ihre Tochter ein. Über die Ereignisse der Nacht sprachen sie danach nie mehr. Sobald das Krankenhaus seine Türen öffnete, eilten sie hin. Doch er lag
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