Souvenirs
nicht mehr auf seiner Pritsche. Er war weg. Er war in der Nacht gestorben. Es war vorbei. Er hatte seine letzten Kräfte aufgeboten, um noch einmal seine Frau und seine Tochter zu sehen. Ja, nur so konnte es gewesen sein. Sein letzter großer Kampf. Er hatte seine beiden Liebsten gesehen und war dann in die große Armee eingegangen.
Manchmal hat man nicht einmal mehr Tränen. Dieser Schock war so heftig, dass sie nicht einmal weinen konnten. Sie gingen zu der Pritsche und klaubten seine Sachen zusammen. Er hatte fast gar keine. Ein Brief von seiner Frau lag da. Eine Haarspange von seiner Tochter. Und ein rotes Kästchen, an dem sein Herz so sehr gehangen hatte, dass er es nie hatte abgeben wollen. Eine Spieluhr. Die Melodie, die sie spielte, war nicht mehr zu erkennen, es fehlten zweiDrittel der Noten. Ich glaube, er liebte diese Spieluhr wie ein Kind, das ein verletztes Tier bei sich aufnimmt. Eine schwer lädierte Spieluhr. Sonst war nichts von ihm übrig geblieben. Es war lächerlich wenig. Eine Putzfrau, die mit Chlorwasser das Lager wischte, bat sie, einen Moment zur Seite zu gehen. Sie führten ihre Bewegungen wie Roboter aus, die sich sträubten, sich mit der neuen Gestalt ihres Daseins abzufinden: Sie waren jetzt Witwe und Halbwaise. Sie wollten das, was sie sahen, mit Stumpf und Stiel aus ihrem Gedächtnis ausrotten. Es gab keine andere Möglichkeit, das Unerträgliche zu überwinden. In dem Moment erhob einer der Verwundeten seine Stimme:
«Er war ein außergewöhnlicher Mensch.»
«…»
«Ich habe mit ihm Seite an Seite gekämpft. Er war wie ein Vater zu all den jungen Hüpfern. Wenn er dabei war, brauchten wir uns keine Sorgen zu machen.»
«Sie waren mit ihm zusammen im Kampf?»
«Ja. Wir wurden zeitgleich getroffen. Es ist schmerzhaft, daran zu denken, wir hatten nämlich nicht viel auszurichten. Wir waren weder bewaffnet noch darauf vorbereitet, einem solchen Ansturm standzuhalten. Die Bomben flogen uns nur so um die Ohren.»
Ich gebe diesen Dialog frei wieder, meine Großmutter kennt ihn auswendig. Sie kann ihn wirklich auswendig, und zwar aus dem Grund, weil der junge Mann, der seine Stimme erhebt, mein Großvater ist. So haben sich meine Großeltern kennengelernt. Mein Großvater war tief bewegt, der Familie seines Leidensgefährten und Freundes zubegegnen. Er hatte das Verlangen, zu reden, loszuwerden, was er in Wochen der Abgeschiedenheit hatte für sich behalten müssen. Es brodelte in ihm, jetzt schon. Sogar im Liegen. Er hatte Schmerzen (ihn quälte ein durch einen Granatsplitter verursachter Milzbrand), und doch versuchte er, die beiden Frauen zu trösten. Seiner zukünftigen Frau wollte er ein Lächeln abringen. Sie war noch so jung, so traurig, so furchtbar traurig. Und vielleicht hatte ihn gerade das berührt.
Die Frauen blieben bei dem jungen Mann, der keine Familie mehr hatte. Sie pflegten ihn, und als er wieder gesund war, kehrten sie alle drei nach Paris zurück. Mein Großvater zog in die Rue de Paradis, und angesichts der sich offenbar regenden Gefühle überließ meine Urgroßmutter den beiden jungen Leuten das Schlafzimmer (im Gegenzug versprachen diese, bald zu heiraten, was sie einige Monate später dann auch taten; in einem leeren Saal im Rathaus des 10. Pariser Arrondissements. In einer beängstigenden Stille hatten sie sich geküsst. Trotz allem hatte das Bündnis eine Art Überlebensfunktion: die, mitten im Sturm den Anker zu werfen). Das Jahr 1941 ging vorbei, dann 1942, schließlich auch 1943. Es regierte eine stattliche Niedertracht in diesen Jahren. Die Concierge im Haus hatte eine jüdische Familie denunziert. Mein Großvater ohrfeigte die Frau, doch die wollte in ihrer einfältigen französischen Unschuld nicht einsehen, dass sie etwas Schlechtes getan haben sollte. Meine Großmutter hielt sich die meiste Zeit in der Wohnung auf und wartete, dass ihr Mann nach Hause kam.
Der hatte eine Stelle als Kellner in einem Café gefunden. Er lauschte dem gemäßigten Ton, in dem die Gäste sich unterhielten. Er bewirtete die Deutschen und ihre kleinen opportunistischen Huren, deren Haarpracht bald nur noch in der Erinnerung fortleben sollte. Er servierte den Frauen, die nach Liebe hungerten, leckere Croque-Monsieurs. Er beobachtete, wie das Karussell der moralischen Armseligkeit, mitunter auch der geistigen Bravourstücke und der feigen Normalität sich drehte. Wenn er nach Hause kam, trug er ein Lächeln auf den Lippen, als wäre der Krieg nur ein Spiel. Er war
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