Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Souvenirs

Souvenirs

Titel: Souvenirs Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Foenkinos
Vom Netzwerk:
Leben veränderte: Auguste D., die am 25. November 1901 in die psychiatrische Klinik zu Frankfurt eingewiesen wird. Alzheimer ist siebenunddreißig, als er beginnt, den Krankheitsverlauf dieser Patientin zu verfolgen, die an einem zunehmenden Verfall ihrer kognitiven Fähigkeiten leidet. Ihm ist nicht von Anfang an klar, dass diese Frau sein bevorzugtes Studienobjekt, seine Muse werden wird. Er setzt sich zu ihr, befragt sie und notiert fast täglich, wie sich ihr Zustand entwickelt, welche Wahrnehmungsveränderungen sie zeigt und was für abwegige Verhaltensweisen sie an den Tag legt:
    «Wie heißen Sie?»
    «Auguste.»
    «Familienname?»
    «Auguste.»
    «Wie heißt Ihr Mann?»
    «Ich glaube … Auguste.»
    Ihr Vorname war fast ihre einzig verbliebene Erinnerung.
     
    In der Zeit, in der dieser Fall ihn mehr und mehr einnimmt, fällt Alois plötzlich ein, dass seine Nachbarin in dem Haus, in dem er als Kind gewohnt hatte, ebenfalls Auguste hieß. Er hatte diese Frau sehr geliebt, sie hatte oft auf ihn aufgepasst, Kuchen für ihn gebacken, ihn nach allen Regeln der Kunst verwöhnt. Es war eine Frau, die selbst keine Kinder haben konnte. Eines Tages war sie ausgezogen, sie ging mit ihrem Mann nach Hamburg, der dorthin versetzt worden war. Als sie Abschied nahm, gab sie Alois einen dicken Kuss auf die Stirn. Sie sagte: «Hoffentlich vergisst du mich nicht.» Er war von der Abreise dieser Frau tief getroffen, doch nach ein paar Monaten hatte er sie komplett vergessen. Dreißig Jahre später, als er der Auguste gegenübersaß, die sich an nichts mehr erinnern konnte, der Auguste, die ihn unvergesslich machen sollte, erinnerte er sich an die Auguste seiner Kindheit und hatte den Gedanken, dass bei jeder wichtigen Begegnung im Leben auch ein Stück Zukunft mitschwingt.

43
    Auf dem Rückweg ersparten wir uns den Weg entlang der Klippen. Meine Großmutter hatte sich nicht viele Gedanken gemacht, was sie erwartete, als sie hierhergekommen war. Sie wollte sich von ihrer Nostalgie treiben lassen, die Schönheit dieser Nostalgie spüren, doch nun war sie auf die raue Wirklichkeit geprallt. Man weiß nie, was die Vergangenheit für einen bereithält. Ob sie ein schmerzliches und melancholisches Lied spielen wird; oder ob sie moderne Töne anschlägt und die Freuden der Vergangenheit neu aufleben lässt. Ihre Tränen schienen meine Großmutter selbst überrascht zu haben, als hätten sich plötzlich die Grenzen ihrer Empfindsamkeit verschoben. Wir schritten langsam dahin, wussten nicht recht, was wir mit uns anfangen sollten. Ich fragte sie, ob sie ins Hotel zurückwolle, um sich vor dem Mittagessen ein bisschen auszuruhen. Sie gab mir nicht gleich eine Antwort, schien zu überlegen, bevor sie schließlich sagte:
    «Wir könnten zu meiner alten Schule fahren. Die Frau vom Gemeindeamt hat gesagt, sie existiert noch.»
    «Okay.»
    «Fahren wir mit dem Auto, ich zeig dir, wo’s langgeht.»
    Wir fuhren die paar Hundert Meter bis zur Guy-de-Maupassant-Schule. Meine Großmutter wies mir den Weg,als hätte sie immer hier gelebt. Alles hatte sich verändert, die Schilder, die Läden, aber der Verlauf der Straßen war noch derselbe. Das Gerüst des Orts hatte sich nicht verändert. Wir parkten vor dem Gebäude. Es war eine ganz kleine Schule. Vielleicht fünf Klassen, mehr nicht; eine pro Jahrgangsstufe wahrscheinlich. Der Pausenhof lag gleich hinter dem Eingangsportal. Man konnte den Kindern im Vorbeigehen beim Spielen zusehen. Einige Mamis standen da, in Erwartung ihrer Kleinen zur Mittagspause. Während sie sich unterhielten, warfen sie immer wieder kurze Blicke in unsere Richtung. Wir stellten eine seltene Attraktion in ihrem Alltag dar. Da sie einen unschlüssigen, um nicht zu sagen beunruhigten, Eindruck auf mich machten, sagte ich nach einer Weile:
    «Meine Großmutter ist hier zur Schule gegangen.»
    «Na, prima …», gab eine Mutter etwas erschrocken zurück, als würde ihr mit einem Mal bewusst werden, dass ihre kleine Tochter einmal alt sein würde.
     
    In dem Moment kamen die Kinder aus der Schule gelaufen. Einige blieben im Hof, wohl die, die mittags in der Kantine aßen. Die Jungs bolzten und tauschten irgendwelche Karten; die Mädchen hüpften Gummitwist und Himmel und Hölle. Meine Großmutter schien von dem Schauspiel hingerissen zu sein, aber ich hätte nicht sagen können, was ihr
wirklich
durch den Kopf ging. Auch wenn sie versucht hätte, es mir so genau wie möglich zu beschreiben, es wäre mir ein absolutes

Weitere Kostenlose Bücher