Souvenirs
Rätsel geblieben. Mir werden ihre Gefühle so lange fremd bleiben, bis ich in ihrem Alter den Hof meinerGrundschule gesehen habe. Wobei dies nicht zu geschehen droht, denn meine Grundschule ist vor Kurzem wegen Asbestverseuchung abgerissen worden. Gut möglich, dass ich verseucht worden bin. Damit hätte ich endlich einen Grund für meine neurotischen Anwandlungen gefunden. Meine Großmutter setzte meinen abschweifenden Gedanken ein Ende: «Ich hab das alles so vermisst.» Sie fing wieder an, mir von ihrem frühen Schulabbruch zu berichten, und ich hätte ihr um ein Haar gesagt, dass sie ihre alte Geschichte wiederkäut. Aber eigentlich wandte sie sich ja an sich selbst, wenn sie unermüdlich die Geschichte ihres Schmerzes erzählte. Ich schlug vor:
«Sollen wir reingehen? Sollen wir uns die Klassenzimmer anschauen?»
«Heute nicht, nein», antwortete sie schnell, und ich begriff, dass es Erinnerungen gibt, denen man sich schrittweise nähern muss.
Wir fuhren ins Hotel zurück, und sie ging direkt hoch auf ihr Zimmer. Ich blieb allein im Salon und las eine alte Zeitung, die da herumlag. Die Nachrichten der Vorwoche durchzublättern, ist immer wieder interessant. Alles dreht sich so schnell, dass die Gegenwart fast lächerlich erscheint. Wozu lesen, was in ein paar Stunden nicht mehr gilt? Ich legte die Zeitung weg und döste kurzzeitig ein. Als ich wieder zu mir kam, war es allerdings nicht mehr früh am Nachmittag. Ich ging nach oben, um zu sehen, was meine Großmutter machte. Ich öffnete die Tür einen Spaltbreit, sie schlief noch. Sie wirkte jetzt kraftlos auf mich. Der jugendlicheEindruck vom Vortag war verschwunden. Ich fand sogar, dass ihr Atem ungewöhnlich schwer ging.
Ich entschloss mich, noch einmal zur Schule zu fahren, ich hatte nämlich eine Idee. Diesmal erwartete ich den Unterrichtsschluss um 16 Uhr 30 zusammen mit den Müttern, die mich mit unverändert alarmierter Miene beobachteten. Ich hatte dafür durchaus Verständnis. Denn ich hatte hier eigentlich nichts zu suchen. Meine müde, unrasierte Visage musste den Kindesentführereindruck, den ich machte, noch verstärken. Um auf die Umstehenden beruhigend einzuwirken, sandte ich ein breites, wohl etwas unflätiges Lächeln aus. So erzielten meine Versuche, zur Entspannung der Atmosphäre beizutragen, den gegenteiligen Effekt: Die Panik in den Gesichtern schwoll deutlich an. Schließlich trat ich ein wenig zur Seite, als die Schüler herauskamen. Das aufgeregte Tohuwabohu verflüchtigte sich rasch wie ein Wirbelsturm, der es eilig hatte, die Zerstörung der Erde zu Ende zu bringen. Binnen weniger Minuten hatte sich der Schultag in Wohlgefallen aufgelöst. Ich war in einer bestimmten Absicht hierhergekommen, aber da ich nun hier war, war ich mir meiner Sache nicht mehr so sicher. Ich ging in den Hof und setzte mich auf eine Bank. Zwei oder drei Minuten später (ich schwanke) trat eine Frau heraus. Eine junge Frau. Das erstmalige Erscheinen eines Menschen, der in das Leben eines anderen Menschen tritt, ist immer furchtbar ergreifend.
Nie werde ich vergessen, wie diese junge Frau einigermaßen sicheren Schrittes auf mich zukam. Sie trug ein dunkelblauesKleid ohne irgendwelche Motive und hatte das Haar zu einem Pferdeschwanz gebunden. Ich könnte Seiten damit füllen, die Bewegung aufzudröseln, wie sie auf mich zukam. Es wäre mir ein Leichtes. In dem Augenblick war sie eine Fremde für mich. Eine von drei Milliarden Frauen auf der Welt; anonym. Ja, in dem Augenblick wusste ich noch nicht einmal ihren Vornamen: Louise. Ich wusste nicht, dass sie seit drei Jahren hier unterrichtete und dieses Jahr die dritte Klasse hatte. Ich wusste nicht, dass sie einen Schauspielkurs besuchte, den sie aber bald abbrechen sollte, weil sie davon überzeugt war, dass sie kein Talent hatte. Ich wusste nicht, dass Woody Allen und Aki Kaurismäki ihre Lieblingsregisseure waren. Sie mochte auch Michel Gondry, vor allem wegen
Vergiss mein nicht!,
einem Film über die Vernichtung von Erinnerungen an die Liebe. Sie schwärmte allgemein für das französische Kino der 1970er-Jahre. Mochte Claude Sautet, Maurice Pialat und Yves Robert. Das erinnerte sie an ihre Kindheit. Ende der 1970er-Jahre dominierte die Farbe Orange; man konnte sie buchstäblich mit den Händen greifen. Louise hatte den Eindruck, dass in diesem Orange ihre Ursprünge lagen. Als sie klein war, mochte sie Spaziergänge in der Natur, ihr großer Traum war, eine Trauerweide zu besitzen. Manchmal
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