Souvenirs
der Titel des Buchs:
Die schmutzigen Hände.
Der Szene wohnte eine gewisse Komik inne, und so begann er seinerseits zu lächeln. Alice, geistreich, wie es sich für eine Alice gehört, erwiderte: «Zum Glück lese ich nicht
Die Pest.
»
41
In jener Nacht wachte ich mehrmals auf. Meine Familiengeschichte trieb mich um, und unter sie mischten sich Szenen der Gegenwart. Epochen trafen zusammen und gerieten durcheinander, formten wunderliche, aus der Zeit gefallene Gebilde. Über mein Alter konnte ich nichts Genaues sagen. Nichts schien mehr gesichert in dieser Nacht, und das gefiel mir. Die Realität wurde davongespült, ich hörte, wie mein Telefon klingelte und glaubte, es müsse etwas Schlimmes sein. Mein Vater rief an, weil er schlechte Nachrichten hatte. Ich ging ran und stellte fest, dass es keine Nachrichten gab. Ich reimte mir einiges zusammen, ich träumte und schrieb. Das Einzige, was ich nicht verstand an dieser Nacht, in der die Wirklichkeit von einer Lawine hinfortgerissen wurde, das war, wieso keine Frauen in meinen Träumen umgingen. Es tat weh zu spüren, dass ich mich von der heißbegehrten Weiblichkeit auf tragische Weise so weit entfernt hatte, dass sie nicht einmal mehr in meinen Träumenauftauchte. Ich wusste noch nicht, dass wichtige Frauen ohne vorherige Ankündigung plötzlich vor einem stehen können. Ich wusste nicht, dass ich in dieser Sinnlichkeitswüste das Versprechen einer baldigen Fata Morgana zu sehen hatte. Ich wartete darauf, dass der Tag anbrach; sagte mir, das sei die einzige Gewissheit, die ich hatte: Ein neuer Morgen würde grauen, was immer auch geschah.
Ich traf meine Großmutter beim Frühstück. Wir gaben ein niedliches Pärchen ab, jeder hatte so seine Gewohnheiten: Tee für sie, Kaffee für mich. Im Hintergrund lief eine Musik, die mich bedenklich stimmte, eine Mischung aus Barbara und Abba. Ich trank zahlreiche Tassen, um aufzuwachen.
«Das Frühstück ist hervorragend», meinte meine Großmutter.
«Ach echt? Findest du?»
Ich glaube, sie fand alles hervorragend an diesem Morgen. Die schönsten Momente im Leben sind die, in denen es einem vollkommen wurst ist, was man isst. Das Brot schmeckte in der Tat irgendwie nach Wiedergeburt. Ich schluckte es artig hinunter und genoss ihre gute Laune. Wir waren entschlossen, diese sagenumwobene Alice aufzusuchen, die einzige in der Gegend Verbliebene von denen, die mit meiner Großmutter in die Grundschule gegangen waren. Ich hatte vorgeschlagen, vorher anzurufen, aber meine Großmutter wollte lieber spontan vorbeischauen. Wenn schon Überraschungsbesuch, dann richtig. Draußen war immer noch recht schönes Wetter. Der Sommer wollte sichnicht geschlagen geben. Oder lag es am Herbst, der sich nicht zu behaupten verstand? Eigentlich hatte ich ja keine Ahnung von der Schlacht, die zwischen den Jahreszeiten tobte.
Der Weg war nicht sehr weit. Ich schlug vor, mit dem Auto zu fahren, aber meine Großmutter zog es vor zu laufen. Wir gingen an den Felsklippen entlang. An einer Stelle konnten wir nicht umhin, in der Betrachtung des sich uns bietenden Bilds ehrfürchtig zu verharren. Das Land fiel hier auf schauerliche Weise ins Meer ab. Diese Weltuntergangskulisse hatte schon viele Selbstmorde ausgelöst. Ich fand das komisch, beim Anblick des Meers sterben zu wollen, angesichts dieses bombastischen Spektakels irdischer Schönheit. Wer diese Landschaft sah, war vielmehr dazu verdammt, am Leben bleiben zu wollen. Eine ganze Weile standen wir wortlos da, bewegt von der Gewalt der Natur.
Ich klopfte an die Tür. Eine Frau öffnete, sie war so um die fünfzig. Es war die Tochter von Alice, die jeden Vormittag ihre Mutter besuchte. Wir erklärten ihr, wer wir waren. Sie konnte es kaum glauben:
«Das ist ja eine unglaubliche Geschichte … Sie waren also mit meiner Mutter … in einer Klasse?»
«Ja.»
«Ach … ach … ach, das ist ja schade.»
«Schade? Wieso schade?»
«Meine Mutter hat Gedächtnisstörungen … das heißt, das ist jetzt eine dezente Umschreibung dafür, dass sie dabei ist, vollkommen den Verstand zu verlieren.»
«Das tut uns leid», sagte ich, um einem leichten Unbehagen Ausdruck zu verleihen.
«Sie hat Alzheimer. Diese Krankheit ist ja ständig in aller Munde, die Leute meinen, Bescheid zu wissen, aber glauben Sie mir, erst wenn Ihre eigene Mutter Sie einmal angeschaut hat wie jemanden, den sie noch nie gesehen hat, dann kennen Sie sich wirklich aus mit diesem Mist.»
Was sollte man dem entgegnen?
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