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Souvenirs

Souvenirs

Titel: Souvenirs Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Foenkinos
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schmollte sie, manchmal träumte sie. Sie mochte Regen, denn dann durfte sie ihre roten Regenstiefel anziehen. Rot sind dann die 1980er-Jahre. Sie machte Jagd auf Schnecken, ließ sie aber immer wieder frei, weil sie sich schuldig fühlte. Über Jahre hinweg sammelte sie im Herbst Laub, weil sie es würdevoll beerdigen wollte. Als sie sich auf mich zubewegte, wusste ich nochnicht, dass sie Matroschkas und den Oktober mochte. Ich wusste auch nicht, dass sie für Auberginen und Polen etwas übrighatte. Ich wusste nicht, dass sie einige Affären gehabt hatte, die alle mehr oder weniger enttäuschend verlaufen waren, und dass sie beim Warten auf die Liebe allmählich die Geduld verlor. Manchmal war ihr sogar schon der Glaube an sie abhandengekommen. Dann kam sie sich wie eine leicht tragische russische Heldin vor. Doch der Umgang mit den Kindern machte sie glücklich und unbeschwert wie eine italienische Heldin. Ihr rauschendstes Abenteuer hatte sie mit einem Burschen namens Antoine gehabt. Antoine war dann aber zum Studieren nach Paris gegangen. Eigentlich studierte er ja vielmehr eine gewisse Pariserin. Louise war über diese Geschichte sehr verbittert. Doch dann sagte sie sich, dass das ein Mistkerl war. Später hatte er übrigens zu ihr zurückkehren wollen, was immerhin Balsam auf die Wunde ihres Narzissmus war. Doch all das war Vergangenheit. Sie schritt immer noch auf mich zu, und ich wusste nicht, dass sie gern in der Badewanne las und bis zu sechs Bäder am Tag nehmen konnte. Das meiste Vergnügen bereitete es ihr, das warme Wasser über ihre Füße laufen zu lassen. Ach ja, ich vergesse noch ihre große Bewunderung für Charlotte Salomon. Für ihr Leben, ihre Tiefe, ihre Bilder. Von alldem habe ich keine Ahnung, nun, da sie zum ersten Mal in meinem Leben auf mich zukommt, um mir folgende Frage zu stellen: «Kann ich Ihnen helfen?»

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Erinnerungen von Charlotte Salomon
    Das Leben der Charlotte Salomon war so intensiv wie kurz, denn sie starb im Alter von sechsundzwanzig Jahren. Sie wurde in Auschwitz vergast, und sie war schwanger. 1939 hatte ihre jüdische Herkunft sie gezwungen, zu ihren Großeltern an die Côte d’Azur zu flüchten, wo die hochtalentierte Studentin der bildenden Künste wie besessen an die tausend Gouachen malte, die ein außergewöhnliches autobiografisches Werk («Leben? Oder Theater?») bilden, das sich wie ein Roman lesen lässt. Die vorherrschende Thematik in ihrem Werk ist die des Selbstmords, die sie als eine Art atavistische Verdammnis erlebte. Dazu muss man folgenden Hintergrund kennen: Kurz nach ihrer Ankunft in Frankreich traf sie ein Schicksalsschlag, ihre Großmutter nahm sich das Leben. In dieser Situation gestand ihr Großvater ihr die Wahrheit über den Tod ihrer Mutter. Schon als das Waisenkind Charlotte noch klein war, hatte es seine große Verstörung aufzulösen versucht. Nun würde sich Charlotte für den Rest ihres (kurzen) Lebens an die Worte ihres Großvaters erinnern, der selbst vom Kummer dahingerafft werden sollte: «Deine Mutter ist nicht an der Grippe gestorben, sie hat sich umgebracht.
»
Am selben Tag erfuhr Charlotte, dass die Frauen in ihrer Familie praktisch allesamt Selbstmord begangen hatten. Das Schicksal ihrer Mutter bestürzte sie freilich,doch zugleich hatte sie fast den Eindruck, als hätte sie bereits geahnt, was ihr widerfahren war. Sie sollte sich an diese eigenartige Mischung erinnern, die verheerende Wahrheit einerseits und die geradezu besänftigende Bestätigung einer Intuition andererseits.

45
    Beim Abendessen im Hotel sprachen wir wenig. Im krassen Gegensatz zum Vorabend. Etwas Finsteres hatte sich über das Gesicht meiner Großmutter gelegt. Es war ein langer und anstrengender Tag gewesen. Sie ging ziemlich früh nach oben, weil sie sich hinlegen wollte. Ich dagegen spürte, dass ich es nicht aushalten würde, mich auf mein Zimmer zurückzuziehen. Ich spürte den Drang, mich herumzutreiben. Irgendetwas, wovon ich mich befreien wollte, bedrückte mich plötzlich. Ich hatte Lust, mich zu betrinken. Nachdem ich ein bisschen gelaufen war, entdeckte ich in der Ferne ein Schild, das blinkte. Eine Art Leuchtturm für Schluckspechte. Die Neonlichter lockten nur die vom Kurs abgekommenen Schiffe an. Ich trat in die Bar ein und fühlte mich sofort wie in heimischen Gewässern. Oder besser gesagt: Das Dekor bot die idealen Voraussetzungen für meine Zwecke. Drei Männer hatten ihre Ellbogen auf den Tresen gestützt, sie sahen sich erstaunlich

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