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Souvenirs

Souvenirs

Titel: Souvenirs Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Foenkinos
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Unsere Unbeschwertheit war dahin. Die Frau redete unbeirrt weiter: «Sie erkennt absolut niemanden mehr. Manchmal hält sie mich für die Putzfrau, manchmal für ihre Mutter.» Und wir? Für wen würde sie uns halten? Wir gingen einen endlosen Gang entlang, der zu ihrem Zimmer führte und gewissermaßen die Entfernung zwischen zwei Welten symbolisierte. Die Frau klopfte vorsichtig und öffnete dann die Tür. Wir erblickten Alice, die vor einem großen Spiegel hockte und sich die Haare kämmte. Es war ein höchst seltsamer Anblick. Am Rahmen dieses Spiegels waren lauter Glühbirnen angebracht, wie in einer Tänzerinnengarderobe. Alice entdeckte uns im Spiegelbild und drehte sich wortlos um.
    «Du hast Besuch, Mama. Von einer alten Schulfreundin.»
    Wir hielten einen Augenblick inne. Alice betrachtete meine Großmutter, und in dem Moment erschien alles möglich. Jede Bemerkung, jeder Gedanke, jeder Unsinn. Sie stand auf und steuerte auf ihre alte Freundin zu. Sie ging ganz dicht an sie heran, wirklich sehr dicht, und ich konnte förmlich spüren, wie das Herz meiner Großmutter pochte. Fassungslos wohnten wir diesem dramatischen Moment bei.
     
    Ich überlegte, wo ich mich hinstellen sollte. Ich hauchte wohl ein «guten Tag, Madame», das keiner hörte. Meine Worte erstarben in guter Absicht. Alice legte die Hand auf das Gesicht meiner Großmutter, und nach einer Weile sagte sie:
    «Ja, ich erinnere mich.»
    «…»
    «Ich erinnere mich an dich.»
    «Echt, Mama? Erinnerst du dich? Ihr wart zusammen auf der Schule.»
    «Mit mir zusammen? Nein, sie war mit dir zusammen auf der Schule. Ich erinnere mich, das war deine beste Freundin.»
    «Nein, Mama, sie ist in deine Klasse gegangen.»
    «Wir waren zusammen in der dritten Klasse», sagte meine Großmutter in dem Moment. «Du hast hinter mir gesessen. (Sie drehte sich um und hob ihr Haar.) Erkennst du mich nicht an meinem Nacken?»
    Die alte Frau besah den Nacken und setzte dann ein Lächeln auf. Sie hatte keine Ahnung, um wen es sich bei dieser Frau handeln mochte. Ich empfand die Situation als in hohem Maße ungerecht. Meine Großmutter war aus dem Altenheim geflohen, hatte Gefahren getrotzt, um Überreste ihrer Vergangenheit zu suchen, und alles, was von ihrer Kindheit übrig war, war eine in einer undurchdringlichen Welt lebende Frau.
     
    Nach einem Augenblick verkündete Alice: «Seien Sie uns herzlich willkommen. Vielleicht sollten wir ein bisschen Champagner trinken?» Ihre Tochter, die sicherlich gelernthatte, mit dem Gedächtnisschwund ihrer Mutter umzugehen, entgegnete:
    «Ja, gute Idee. Ich geh mal welchen holen.»
    Sie verschwand in der Küche. Wir blieben zu dritt im Zimmer zurück. Alice setzte sich wieder in ihren Sessel. Meine Großmutter nahm neben ihr auf der Bettkante Platz. Die beiden tauschten ein paar Blicke aus und warfen sich ein höfliches Lächeln zu. Dann machte sich Alice erneut daran, ihr Haar zu kämmen. Meine Großmutter probierte es noch einmal:
    «Kannst du dich wirklich nicht erinnern? An die Klasse von Mademoiselle Rougeon? An Édith, Jean-Michel … Erinnerst du dich nicht an Jean-Michel? Er war sehr verliebt in dich … bis über beide Ohren, wirklich … er hat dir Gedichte geschrieben, die du uns hast lesen lassen … sie waren so schlecht, dass wir alle darüber lachen mussten …»
    Alice wandte sich daraufhin meiner Großmutter zu, starrte sie eine ganze Weile an und sagte dann: «Das war eine gute Idee mit dem Champagner.»
     
    Es war nichts zu machen. Ich rückte an meine Großmutter heran und flüsterte ihr zu, dass es mir leidtat. Ich merkte, diese Begegnung brachte sie vollkommen aus dem Gleichgewicht. Sie wisperte leise: «Du wirst mich für verrückt halten, aber sie hat sich überhaupt nicht verändert. Das ist echt unglaublich. Ich erkenne sie an ihren Augen.» Beim letzten Satz versagte ihr die Stimme. Und sie begann zu weinen. Diese Tränen brachen einfach so aus ihr heraus. Meine Großmutter stieß ein paar kurze, aber heftige Schluchzeraus. Alices Tochter kam zurück ins Zimmer und sah die Tränen meiner Großmutter. Sie blieb reglos in der Tür stehen, wusste nicht weiter. Stand da, so herzergreifend wie armselig, das Tablett mit der Champagnerflasche und den vier Gläsern in der Hand.

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