Souvenirs
Wir standen stumm im Morgengrauen, im sich lichtenden Dunkel. Ich freute mich auch, die Lehrerin wiederzusehen, die einen tiefen Eindruck bei mir hinterlassen hatte. Der Effekt war nicht sofort eingetreten, aber bei meinem wenig glorreichem Gelage am Abend hatte ich mich an ihr Gesicht erinnert. Ich liebe es, wenn Frauen ihre Wirkung imNachhinein entfalten. Wenn Stunden vergehen, bis man die Gefühle, die man empfindet, wirklich begreift. Und an mir war das ein besonders ausgeprägter Zug, meine Gefühle stellten sich immer erst mit einiger Verspätung ein. In der Nacht war sie mir in meinen Träumen erschienen, aus denen ich immer wieder aufgeschreckt war. Sie wiederholte wie eine Litanei diesen ersten Satz, den sie zu mir gesagt hatte: «Kann ich Ihnen helfen?» Das Gesicht von Louise, von der ich nicht wusste, dass sie Louise hieß, hatte mir auch im Schlaf keine Ruhe gelassen. Und nun stand ich da, am Ende dieser Nacht, und wartete auf sie.
Als sie kam, lächelte sie über das ganze Gesicht. Ich fand es faszinierend, dass man so früh am Morgen schon so lächeln konnte. Es war wirklich um mich geschehen, und ich sollte daher imstande sein, noch viele Dinge an ihr faszinierend zu finden. Ich stelle das lieber klar, denn mir kam allmählich jeglicher Sinn für Objektivität abhanden. Ich machte sie mit meiner Großmutter bekannt.
«Hocherfreut, Madame. Schön, dass Sie da sind.»
«Die Freude ist ganz meinerseits», entgegnete meine Großmutter mit spürbar bewegter Stimme. «Sie sind ja noch so jung», fügte sie hinzu.
«Ach, finden Sie?»
«Sie werden wahrscheinlich sagen, in meinem Alter kommen einem alle jung vor.»
Louise warf mir einen schelmischen Seitenblick zu. Sie würde meine Großmutter mögen, das war schon mal klar. Das besagte dieser Blick. Doch er besagte auch noch etwasanderes. Er stellte den Beginn eines geheimen Einverständnisses zwischen uns dar, das unser von der Norm abweichendes Unterfangen schuf. Das hatte ich gar nicht miteinkalkuliert, wirklich nicht, als ich Louise vorgeschlagen hatte, meine Großmutter für einen Tag in die Klasse aufzunehmen. Ich hatte gar nicht bedacht, dass das Ganze ja meine Position gehörig aufwertete. Man spricht immer von der Verführungskraft von Familienvätern, die einen Kinderwagen durch den Park schieben. Sich um seine Großmutter zu kümmern, merkte ich, hatte auch seinen Charme.
Mit Kindern hatte ich bis dahin nicht viel zu tun gehabt. Das letzte Kind, mit dem ich in Berührung gekommen war, war ich wohl selbst gewesen. An diesen Drittklässlern, alle zwischen acht und neun, fand ich auf Anhieb Gefallen. Sie sind der ganz frühen Kindheit entwachsen und blicken in die Welt mit einer von Schwerfälligkeit noch ungetrübten Klarheit. In ihnen wohnt die staunende Schönheit des Unmittelbaren. Mir fiel das auf, als ich die Augen sah, die sie anlässlich des Erscheinens dieser so atypischen neuen Schülerin machten. Man muss sich das vorstellen: Die schrumpelige alte Frau, die sich in dieser Klasse an ihr Tischchen setzt. Louise verkündete:
«Wir haben heute einen Gast. Sie heißt Denise und ist vor über siebzig Jahren hier zur Schule gegangen. Sagt guten Tag.»
«Guten Tag, Denise», sagten die Kinder im Chor.
«Guten Morgen … Kinder.»
«Sie wird jetzt am Unterricht teilnehmen und uns späterauch ein bisschen aus ihrem Leben erzählen. Sie wird uns berichten, wie es in den 1930er-Jahren hier gewesen ist. Natürlich dürft ihr ihr auch Fragen stellen.»
Ein Junge, offensichtlich ein großer Frühaufsteher, meldete sich energisch zu Wort. Man hätte meinen können, er wolle mit seinem ausgestreckten Finger den Himmel pieksen. Die Lehrerin forderte ihn auf zu sprechen, und er stellte (tatsächlich) diese Frage:
«War da alles noch schwarz-weiß, als Sie klein waren?»
Ich hielt mich im Gang auf, wollte bei der Erfüllung eines Traums nicht im Weg herumstehen. Ich ging zwischen den Kleiderhakenreihen rechts und links auf und ab und war in Anbetracht all der sauber nebeneinander aufgehängten Mäntel gerührt. Ich dachte mir, in dem Alter war das Leben noch ordentlich aufgeräumt. Man wusste, wo man seinen Mantel hinzuhängen hat. Ich spürte eine Sehnsucht nach dieser aufgeräumten Welt. Fragte mich, wann man ungefähr ins Unaufgeräumte abgleitet. Durch das Glasfenster in der Tür warf ich von Zeit zu Zeit einen Blick auf das Unterrichtsgeschehen. Ich genoss den stummen Anblick von Louise, die zu ihrer Klasse sprach. Meine Großmutter
Weitere Kostenlose Bücher