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Souvenirs

Souvenirs

Titel: Souvenirs Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Foenkinos
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geht.»
    Ich weiß nicht, wieso sie sich bei dem Thema so ereiferten, wo wir doch über eine Landstraße fuhren. Ich glaube,schuld war eine Radiosendung. Eine von diesen Sendungen, in denen die Hörer anrufen und sich abreagieren können, das aktuelle Geschehen kommentieren, die Kommentare von Hörern kommentieren, die das aktuelle Geschehen kommentieren. Ich fand das irre, dass diese beiden Typen ihre Routine abspulten, als ob überhaupt nichts wäre. Sie hätten genauso gut über den Regen oder die Kommunalwahlen reden können, was sich hinter ihnen abspielte, juckte sie nicht im Geringsten: dass da eine Frau im Sterben lag. Meine Großmutter interessierte sie so wenig wie irgendeine andere Ladung. Ich fühlte mich auf dieser Fahrt so allein auf der Welt. Es war so unerträglich, dass ich mir wünschte, dass sie starb, dass das alles aufhört. Ich wollte dieses Schauspiel des Untergangs nicht mehr mit ansehen müssen. Ich weiß nicht, ob jeder Mensch in einer solchen Situation früher oder später solche Gedanken hat oder ob ich ein kleines unmenschliches Monster bin. Ich wollte weg von hier. Ich hatte die Schnauze voll. Von meinen Schuldgefühlen, davon, eine alte Großmutter zu haben. Ich war mit den Nerven am Ende.
     
    Ich war erleichtert, als wir endlich im Krankenhaus ankamen. Ein Notarzt nahm sich unserer an. Er hatte einen merkwürdigen Akzent, schwer zu sagen, wo er herkam. Ich schwankte zwischen Südamerika und Finnland. Aber seine exotische Ausstrahlung war beruhigend. Er maß ihren Blutdruck und fragte mich:
    «Ihr Schwächeanfall, ist der so ganz plötzlich gekommen?»
    «Ja.»
    «Hat sie sich recht schlapp gefühlt in letzter Zeit?»
    «Nein, nicht übermäßig.»
    «Hat sie heute irgendwas Besonderes unternommen?»
    «Ja. Sie hat am Unterricht einer dritten Klasse teilgenommen.»
    «Soll das ein Witz sein?»
    «Nein.»
    Der Mann wollte sich in dieser kritischen Situation nicht mit mir anlegen, aber sein Blick besagte, dass die Dienste eines kleinen Beatmungsgeräts mir wohl auch ganz gut bekämen. Ich nutzte eine ruhige Minute, um meinen Vater anzurufen. Er schwieg, als ich ihm die schlechte Nachricht mitteilte. Aber ich konnte mir sein Gesicht lebhaft vorstellen. Seine ganze Welt löste sich systematisch immer weiter auf. Nach seinem Vater, seiner Arbeit, seiner Frau war nun auch noch seine Mutter weg. Denn der Arzt hatte mir sehr wenig Hoffnung gemacht. Ihr Körper hatte fast keine Kraft mehr. Doch sie starb nicht gleich. Sie überlebte noch die Nacht und glitt langsam, ohne sich wirklich gegen den Tod zu wehren, hinüber ins Nichts. Sie verbrachte diese letzte Nacht in einem strahlend weißen Zimmer in makellos reiner Bettwäsche. Ich war die ganze Nacht bei ihr und hielt ihre Hand. Im Gegensatz zu einst, als ich am Sterbebett meines Großvaters gesessen hatte, war ich nun fähig, meiner Großmutter zu sagen, dass ich sie liebte. Ich sprach es ganz ruhig aus.
     
    Ich dachte, ich könnte ihr etwas vorlesen. Vielleicht hörte sie mich ja. Ich wollte ihr Gedichte vorlesen. Aragon, Éluard, Nerval. Wollte sie mit Lyrik in den Tod begleiten. Doch keine Chance, hier einen Gedichtband aufzutreiben. Am Ende des Flurs stand ein kleines Bücherregal, das mir eher wie ein literarischer Abfalleimer vorkam. Das waren anscheinend die Bücher, die Patienten vergessen beziehungsweise erleichtert liegengelassen hatten. Ich schaute sie alle durch und entdeckte nichts, was für meine Zwecke nützlich war. Agatha Christie oder Auszüge aus irgendeinem anderen Krimi, wo sie wahrscheinlich nie erfahren würde, wie er ausging, kamen wohl nicht so recht infrage. Doch dann fiel mein Blick unversehens auf einen schmalen Reiseführer. Der Titel war
Ein verlängertes Wochenende in Rom.
Das Buch bot zahlreiche praktische Hinweise, wie man sich in der italienischen Hauptstadt ein paar schöne Tage machen konnte: Kulturtipps, kulinarische Empfehlungen, Informationen zu Hotels und Restaurants. Genau das Richtige, dachte ich mir. Ich setzte mich zu meiner Großmutter, die sich kaum noch regte (ihr Atem ging schwer und schien dramatisch langsamer zu werden), und begann, in dem Reiseführer zu lesen. Es ging los mit der Ankunft am Flughafen, mit welchem Verkehrsmittel man am besten die Innenstadt erreichte. Ich gab gut acht, dass ich keine Kleinigkeit ausließ, als würden wir gleich morgen auf Reisen gehen. Dann und wann wurden die Gefühle übermächtig, und ich musste meine Lektüre unterbrechen. Es war ganz seltsam, ich gebe

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