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Souvenirs

Souvenirs

Titel: Souvenirs Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Foenkinos
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es zu, aber ich hatte den Eindruck, sie trieb mich an weiterzulesen. Die Zeichen, die sie mir gab, waren minimal, sie äußerte sicheigentlich nur durch den dünnen Hauch ihres Atems, doch ich spürte, dass sie wissen wollte, wie es weiterging. Wo würden wir übernachten? Wo würden wir essen? Ich zählte ihr die besten Trattorien von Rom auf. Ich analysierte das Preis-Leistungs-Verhältnis[ ∗ ] und notierte mir, in welchem Restaurant es besser war, den Wein extra zu bestellen und wo man sich bequem auf das Komplettmenü verlassen konnte. Die Wahl des Hotels war schwieriger, denn die hing auch vom Budget ab. Da meine Absichten nicht dringend und meine Pläne nicht konkret waren, verweilte ich ein wenig auf der Seite mit den Fünf-Sterne-Hotels. Eines sagte mir am meisten zu, wegen eines lächerlichen Details: Man konnte in der Badewanne fernsehen. Die Nacht schritt voran, und unsere Reise nahm Gestalt an. Wir besichtigten das Kolosseum, die Villa Medici und natürlich den Trevibrunnen, wo ich mir spielend vorstellen konnte, dass gerade die Dreharbeiten zu
La dolce vita
aus dem Jahr 1960 stattfanden. Das Genie reist durch die Zeit, und Anita Ekberg ruft noch immer Marcello Mastroianni, während ich am Anfang des 21. Jahrhunderts in einem Reiseführer über Rom lese.
     
    Ich las die ganze Nacht, und mir erschien das alles so wirklich. Wir waren drei Tage in Rom. Am Ende dieser Reise schloss meine Großmutter für immer die Augen; ihr Atemhatte ausgesetzt. Ich weiß nicht, wann genau sie gestorben ist: bei dem Abschnitt über das Restaurant, das für sein Spargelrisotto bekannt ist, oder bei der Beschreibung der Parkanlagen der Villa Borghese. Aber ich weiß, dass sie in Frieden dahingegangen ist, ohne krampfhafte Zuckungen, ohne Schmerzen. Die Seele verließ mühelos den Körper. Ich schaute sie lange an. Ich wusste vom Tod, ich kannte ihn, und doch war ich immer wieder erstaunt, wenn er plötzlich da war. Es kam mir ganz abwegig vor, dass in ihrem Körper auf einmal kein Leben mehr pulsieren sollte; dass die Gedanken in ihrem Kopf ausgelöscht waren. Und es war schockierend, dieser Tragödie nicht entgegenwirken zu können.
     
    Ich ließ noch einmal den Tag in der Schule an mir vorüberziehen und fand es schön, dass sie einen so eindrucksvollen letzten Tag gehabt hatte. Ihr Leben lang hatte sie dieses schreckliche Gefühl des Unabgeschlossenen mit sich herumgetragen. Nie hatte sie aufgehört, an das jähe Ende ihrer Schulzeit zu denken. Und nun starb sie, kurz nachdem sie in der dritten Klasse zurück war, als hätte sich dadurch ihre Wunde geschlossen. Als hätte dies eine unvollendete Geschichte zu einem Abschluss gebracht. Das Leben ist nun einmal eine runde Sache. In dem Moment trat mein Vater ins Zimmer. Als ich ihn am Vorabend informiert hatte, dass seine Mutter im Krankenhaus lag, hatte er es für klüger gehalten, sich erst am nächsten Morgen, allerdings früh am Morgen, auf den Weg zu machen. Diese Klugheit hatte mich verwundert. Vielleicht brauchte er ein paar Stunden, um die traurige Wahrheit auf sich wirken zu lassen. SeineBrüder, der eine befand sich in Südfrankreich, der andere im Ausland, flogen heute nach Paris. Dort sollten wir sie treffen, dorthin wurde die Leiche überführt. Am Ende hatte mein Vater es doch nicht ausgehalten, die ganze Nacht zu warten, und war gegen vier Uhr morgens losgefahren, ohne mir Bescheid zu geben. Nun stand er da. Am Bett seiner Mutter. Er begriff sofort, dass es vorbei war. Er klammerte seinen Blick an mich, wartete darauf, dass ich irgendetwas sagte. Ich murmelte, soeben sei der Tod eingetreten. Im ersten Augenblick zeigte er keine Reaktion, dann kam der Zusammenbruch. Er sank auf einen Stuhl und begann zu weinen, verbarg dabei das Gesicht in den Händen. Ich konnte verstehen, dass er am Boden zerstört war, aber eine Sache überraschte mich doch: Er weinte nicht wirklich um seine Mutter, er weinte, weil er nicht da gewesen war, als sie starb. Ich glaube, ich hörte, wie er sagte: «Wieder mal versagt.» Er hatte keine Gelegenheit mehr, Abschied von ihr zu nehmen.
    ∗ Was zum Teil schwierig war, weil die Preise noch in Francs angegeben waren. Erst daran merkte ich, dass der Reiseführer anscheinend veraltet war. Aber egal, ich sagte mir, Rom ist eine Stadt, die sich nicht so stark verändert. An Rom sind die Jahrhunderte vorübergegangen.

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Erinnerungen von Marcello Mastroianni
    Im September 1996 gab der italienische Schauspieler am Rande von Dreharbeiten

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