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Souvenirs

Souvenirs

Titel: Souvenirs Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Foenkinos
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Minuten legte er endlich auf und vermeldeteauf der Stelle: «Entschuldigen Sie … ich habe nämlich … Na ja, es gab Probleme mit einer anderen Leiche.» In Anbetracht des Schweigens, auf das er stieß, fasste er sich. Er stellte sich vor und drückte uns sein Beileid aus. Er verstand es, seine Worte mit einem schönen mitleidigen Ausdruck zu versehen. Man spürte, er kannte den an die trauernden Familien zu richtenden Text in- und auswendig. Aber seine Anteilnahme war ja nicht so wichtig. Wir wünschten uns bloß, dass er die Sache in die Hand nahm. Das hieß: Dass er sich der Verstorbenen annahm. Aber die Dinge sollten sich nicht so einfach gestalten; das tun sie nie.
     
    Mit seinen Fragen stiftete der Mann Verwirrung:
    «Haben Sie die Leiche identifiziert?»
    «Wie meinen Sie?»
    «Na ja, bevor ich sie auflade, müssen Sie einen Lieferschein unterschreiben, wo draufsteht, dass da auch tatsächlich Ihre Mutter drin ist.»
    «…»
    «Also … es geht nur darum, dass wir fahren können», fuhr er fort.
    Jedes einzelne seiner Worte schien meinen Vater tief zu erschüttern.
    «Ja, das ist tatsächlich meine Großmutter», sagte ich, da an unseren Leidensmienen anscheinend nicht genug abzulesen war.
    «Nein, ich sag das bloß, weil manchmal … Na ja, also das kann schon mal vorkommen … dass man sich in der Leiche irrt … Mir ist das schon passiert, dass ich jemandenan den falschen Ort zur falschen Familie gebracht hab … Sieht immer alles so einfach aus … aber man kann nie wissen … deswegen lasse ich lieber die nötige Vorsicht walten, verstehen Sie?»
    Wir verstanden nur, dass man uns nicht in Ruhe ließ in unserem Schmerz. Wir verstanden, dass Tote von absurden behördlichen Vorgängen festgehalten werden konnten. Der Mann, der sich in Besitz des zu unterschreibenden Dokuments befand, machte mich ebenfalls sprachlos. Er wirkte geradezu überrascht, als ich ihm mein Anliegen vortrug, und stöberte dann zwei Minuten in seinem Büro herum. Seinem Gesicht nach zu urteilen, geschah es zum ersten Mal, dass auf dieser Welt ein Mensch zu Tode kam.
     
    Schließlich waren alle Formalitäten erledigt. Wir waren fertig. Mein Vater und ich warteten auf dem Parkplatz in unseren Wagen. Wir wollten nicht mitansehen, wie sie die Leiche verfrachteten. Auch das dauerte unwahrscheinlich lang. Ich überlegte mehrmals, ob ich aussteigen sollte, um nachzusehen, was da los war. Endlich kam der Leichenwagen, und wir konnten aufbrechen. Wir fuhren hintereinanderher, ein Totenballett für drei Autos, das sich auf Paris zubewegte. Ich hatte bis dahin noch gar nicht geweint. Aber als ich mich der Autobahngebührenschranke näherte, dachte ich an meine Hinfahrt zurück, wie ich mich gefühlt hatte, als ich mich nach Le Havre aufmachte, und mir kamen die Tränen. Der Gegensatz zwischen beiden Gefühlslagen traf mich mitten ins Herz. So viele widersprüchliche Empfindungen purzelten in mir durcheinander, ich steuerte über dieseStraße und hatte keine Ahnung, wie es in meinem Leben weitergehen sollte. Die letzten Tage hatte ich in einem merkwürdigen Trancezustand verbracht, der die ständige Angst vor der ungewissen Zukunft vorübergehend betäubt hatte. Ich würde in mein Hotel zurückkehren. Würde versuchen zu schreiben. Würde vielleicht das Angebot meines Chefs annehmen. Ich bewegte mich im Rahmen von Hypothesen, und die Aussichten erschienen mir nicht gerade rosig.
     
    Ich brachte die Fahrt auch damit zu, im Rückspiegel den Wagen meines Vaters zu beobachten. Er hatte eine schlaflose Nacht gehabt (ich zwar auch, aber ich war daran gewöhnt) und fuhr nicht rund. Man musste Angst haben, dass er einen Unfall baute. Ich malte mir das düstere Szenario aus: Gestorben, als er hinter dem Wagen herfuhr, in dem sich der Leichnam seiner Mutter befand. Klang plausibel. Ich sah, dass er weinend am Steuer saß. An ihm mussten Schuldgefühle nagen. Die Beziehung zu seiner Mutter war so brutal zu Ende gegangen. Hätte sich meine Großmutter den Zeitpunkt ihres Todes aussuchen können, hätte sie niemals einen gewählt, in dem das Verhältnis zu ihren Kindern so getrübt war. Sie hätte keine bittere Note hinterlassen. Und doch war das jetzt der Fall. Und so würde es nun auf immer bleiben. Ihre Beziehung war schlecht ausgegangen. Hatte eines jener tragischen Enden genommen, die hinterher noch lange in den Köpfen der Überlebenden umgehen. Er machte sich derlei Vorwürfe. Und er machte sich auch Vorwürfe wegen meiner Mutter. Er fühlte sich

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