Souvenirs
saß hübsch artig da, verschmolzen mit ihrer Umgebung. Sie machte sich Notizen auf einem kleinen Block, den eines der Kinder ihr geliehen hatte. Und dann klingelte es bereits. Ich fühlte mich plötzlich in meinen eigenen Schulhof zurückversetzt. Die Welt mag sich noch so sehr verändern, die Pausenklingel bleibt immer die gleiche. Ein kleines Mädchen nahm meine Großmutter bei der Hand und zeigte ihr denWeg. Ich hatte nicht einmal Gelegenheit, mit ihr zu reden. Die Kinder schwirrten um sie herum. Zusammen mit Louise beobachtete ich das Treiben. Wir standen beide etwas abseits im Hof. Andere Lehrer gesellten sich zu uns, um sich zu erkundigen, wie es bisher gelaufen war. Eine Lehrerin sagte zu mir:
«Meine Schüler sind ganz eifersüchtig. Sie wollen, dass Ihre Großmutter in ihre Klasse kommt.»
«Vielleicht kann ich meine Großmutter ja irgendwann noch mal vermieten», gab ich zurück, aber keiner lachte.
Es entstand schnell eine Pause. Die anderen Lehrkräfte ließen Louise und mich allein. Ich weiß nicht, ob uns etwas anzumerken war. Doch wir hatten vor den Lehrern mit ganz gedämpfter Stimme miteinander gesprochen, als wollten wir die Intimität unseres Verhältnisses herausstellen. Wir duzten uns, wir waren ja ungefähr gleich alt. Das heißt, Louise war drei Jahre älter als ich. Als ich sechs war, war sie neun. Als ich zwölf war, war sie fünfzehn. Als ich zwanzig war, war sie dreiundzwanzig. Und so weiter, ich folgte ihr im immer gleichen Abstand. Doch das galt nur für das Alter. In Bezug auf das Übrige hoffte ich, mich ihr annähern zu können.
Wir hatten nur kurz geredet, solange eben die Pause dauerte, aber ich hatte Zeit gehabt, ihr zu sagen, dass ich im Hotel arbeitete, weil ich da einen guten Platz zum Schreiben hatte. Sie hatte gesagt: «Ach was, du schreibst einen Roman? Das ist ja super.» Es gab also noch Menschen, bei denen die Vorstellung, dass jemand schreibt, Entzücken hervorzurufen vermochte. Im Allgemeinen konnte man damitkaum noch eine Katze hinter dem Ofen hervorlocken. Schreiben war etwas ganz Gewöhnliches geworden. Jeder schrieb irgendwie. Man munkelte, es gebe mehr Schriftsteller als Leser. Die jungen Mädchen heutzutage, so meine Erfahrung, waren nicht mehr ausschließlich voll der Bewunderung, wenn ein junger Mann ehrgeizig ein literarisches Projekt verfolgte. Im Gegenteil, sie fanden das mitunter beunruhigend oder gar vollkommen erbärmlich. Ich bin mir ganz sicher, es hat eine Zeit gegeben, in der die Frauen, fasziniert von seiner Art, das Komma hier- oder dahin zu setzen, sich jedem Schriftstellerlehrling willig hingaben. Louise interessierte sich vielleicht einfach nur für mich. Das heißt, sie hätte das gleiche Funkeln im Blick gehabt, wenn ich ihr erzählt hätte, dass ich mich mit dem Gedanken trug, Krawatten zu verkaufen? Den ersten Schritten der Verführung wohnt ein großer Zauber inne. Ich liebe sie, jene paar Minuten im Pausenhof. Und manchmal sehne ich mich so sehr danach, die unwiederbringliche Zeit wiederzufinden, in der wir uns kennenlernten.
Im Schulhof legte ich mich auf eine Bank und versuchte ein wenig zu schlafen. Die Nacht, in der ich mich zum Mini-Bukowski aufgeschwungen hatte, forderte ihren Tribut. Dann wurde es Zeit für die Kantine. Ich genoss es, mein Tablett auf dem Ablagegestell an den Gerichten entlangzuschieben. Wobei, es gab nur ein Gericht: gefüllte Tomaten. Wir setzten uns mit den anderen Lehrern in eine ruhige Ecke. Alle fanden unsere Aktion klasse. Man fragte meine Großmutter, ob sie auch nicht zu müde sei, ob das allesschöne Erinnerungen in ihr wecke, ob es in den 1930er-Jahren auch schon gefüllte Tomaten gegeben habe. Da saßen wir in einer kleinen Grundschule in Étretat, eingeschmuggelt in den Alltag dieser Leute. Und hatten den Eindruck, schon immer dazugehört zu haben. Es klingelte, alle kehrten in die Klassenzimmer zurück und ich blieb einen Moment allein im leeren Speisesaal sitzen. Ich betrachtete all diese Gegenstände, die aus meinem Leben verschwunden waren: die Wasserkrüge, die gelbe Seife am Wandhaken, die Becher, wo auf dem Boden innen eine Zahl stand. Aufgrund dieser Zahl konnten wir pausenlos einander die Frage stellen: «Du bist wie alt?» Als ich mein Glas ausgetrunken hatte, sah ich, ich war sieben Jahre alt.
Am Nachmittag erzählte meine Großmutter den Kindern, wie das Leben früher ausgesehen hatte: wie es in der Schule war, an was für Regeln man sich zu halten hatte, welch strenge
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