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Souvenirs

Souvenirs

Titel: Souvenirs Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Foenkinos
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mehr denn je schuldig an ihrem Zusammenbruch, weil er ihr kein Vertrauenin ihre gemeinsame Zukunft hatte geben können. Sein ganzes Leben kam ihm vor wie ein Mantel, der ihm immer viel zu groß gewesen war. Als wir zuvor auf den Leichenchauffeur gewartet hatten, hatte ich ihn gefragt: «Wie geht’s Mama?» Er hatte eine ganze Weile benötigt, bis er antwortete, mit der Wahrheit herausrückte:
    «Deine Mutter wird jetzt stationär behandelt.»
    «Was?»
    «Sie ist in eine Klinik eingeliefert worden.»
    Ich sagte nichts darauf. Ich ließ diesen neuerlichen Grad an Zerrüttung an mir abprallen. Man kann nicht alles gleichzeitig bewältigen. Man muss eine Leidenshierarchie aufbauen.
     
    Mein Vater war dabei, den Anschluss zu verlieren. Ich sah ihn nur noch als kleinen Punkt am Horizont. Und dann kam er plötzlich ganz schnell näher und klebte gefährlich an meiner Stoßstange. Er war wohl frenetisch aufs Gaspedal getreten, um den Abstand wieder zu verringern. Aber kurze Zeit später ließ er sich erneut abhängen. Das ging die ganze Fahrt so weiter, ständig wechselte er grundlos und nervös das Tempo. Es war eine endlos erscheinende Prozedur, aber wir kamen trotzdem an. Meine Onkel erwarteten uns in Begleitung ihrer Frauen, und ich fühlte mich erleichtert, als ich meinen Vater dem Kreis der Familie übergeben konnte. Erschöpft ging ich nach Hause. Ich legte mich aufs Bett, und zum ersten Mal, seitdem ich hier eingezogen war, gestand ich mir ein, dass ich mich nie wohlgefühlt hatte in dieser Wohnung. Alles war wie der Inbegriff des Provisorischen.
     
    Ich hatte es immer so gesehen, dass ich mich für einen begrenzten Zeitraum hier aufhalten würde. So lange, bis ich mehr Geld hatte, in einer bequemeren finanziellen Lage war. Am Anfang war es nur darum gegangen, unabhängig zu sein. Ich brauchte unbedingt einen Ort, an dem ich für mich sein konnte. Doch an dem Abend spürte ich eine tiefe Traurigkeit bei dem Gedanken, dass ich in einer seelenlosen Wohnung wohnte, die mir nichts bedeutete, die keine Wärme ausstrahlte und die mir kein Trost war, wenn die Einsamkeit auf mir lastete.
     
    Einige Tage trieb ich seltsam friedlich dahin, dann kam der Tag der Beerdigung. Alle hatten sich versammelt: Kinder und Kindeskinder, nahe und entfernte Cousins und Cousinen sowie ein paar alte Weggefährten, die wir aufgestöbert hatten. Die Allerheiligenferien hatten begonnen: Meine Großmutter hatte immer viel Sinn fürs Harmonische gehabt. Der Himmel war grau, die Blätter fielen von den Bäumen, es herrschten angenehm traurige Bedingungen. Alle hatten mittlerweile vom Schulbesuch meiner Großmutter in Étretat gehört, was Anlass bot, uns gegenseitig ein Lächeln zu schenken. Sie schien zu gefallen, diese letzte Anekdote ihres Lebens. Ich hingegen war mir nicht mehr so sicher, was ich von ihr halten sollte. Ich hatte sie aus nächster Nähe miterlebt, aber der brutale Ausgang der Geschichte verleidete mir die Erinnerung. Als ich sie mit den anderen teilte, wollte ich meine Hauptrolle abgeben. Die drei Söhne hielten nacheinander kurze Grabreden. Vielleicht ist es grausam, das zu sagen, aber ich fand diese drei Reden vollkommenherzlos. Wie von einer roboterhaften Innerlichkeit eingegeben. Mir wurde klar, dass hier wirklich eine Ära zu Ende ging. Die das Band zwischen den gefühllosen Elementen in dieser Familie löste. Nichtsdestotrotz blieben wir alle zusammen am Grab stehen, nachdem die sterblichen Überreste meiner Großmutter ihre letzte Ruhestätte gefunden hatten. Niemand wollte sich von ihr trennen. In einem Moment, in dem ich mich umdrehte, bemerkte ich Louise.
     
    Ich hatte seit unserem Aufbruch aus Étretat oft an sie gedacht. Allerdings hatte ich keinen Schimmer, was ich nun machen sollte. Zurückfahren, um sie wiederzusehen? Sie vergessen? Die Frage stellte sich jetzt nicht mehr. Louise war da. Sie stand direkt vor mir.
    «Hallo», sagte sie.
    «Hallo.»
    «Ich wollte auch zur Beerdigung kommen … ich hoffe …»
    «Schön, dass du gekommen bist.»
    Ich kannte Louise nicht, und doch stellte ich sie an jenem Tag meiner ganzen Familie vor, als wären wir alte Bekannte. Während der Trauerzeremonie hatte sie sich abseits gehalten, um die familiäre Andacht nicht zu stören. Als sie gesehen hatte, dass wir uns nicht aufmachten, war sie näher gekommen. Sie hatte sich Sorgen gemacht, nachdem wir nach Unterrichtsschluss so schnell verschwunden waren und sie nichts mehr von uns gehört hatte. Der Hotelpatron hatte ihr

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