Sozialisation: Weiblich - männlich?
im Schwinden ist. Indem die Mutterschaft zunehmend als freie Wahl der Frau
erscheint
(jedenfalls oft der Zeitpunkt gewählt werden kann) verstärkt sich die „fun morality“, die moralische Pflicht, Spaß und Freude am Kind zu haben.
Zusammen mit der von der Frauenbewegung symptomatisch angezeigten Steigerung des Selbstwertes von Frauen vermute ich, daß die Ergebnisse von
Arcana
(1979) durchaus auch hierzulande in der Tendenz möglich wären: Die Frau wünscht sich ein Kind, das sie verstehen kann, das ihr Kameradschaft und Vertrauen geben wird, und sie kann sich das besser vorstellen mit einer Tochter. Das männliche Stereotyp hat eine deutliche Entwertung in Deutschland erfahren, was sich z. 13. darin zeigt, daß bei einer vergleichenden Untersuchung mit 5- und 8-jährigen Kindern die deutschen Kinder – anders als in allen anderen Ländern der Untersuchung – weniger Merkmale als „typisch männlich“ angeben konnten als Merkmale für Frauen. (Im Vergleich waren Frankreich, Italien, Norwegen, Holland und die USA). Ein Merkmal wie „abenteuerlustig“, das von Kindern in allen Vergleichsländern sehr stark als typisch männlich gesehen wurde, wurde von deutschen Kindern den Männern überhaupt nicht zugeschrieben. Insgesamt hatten die deutschen Kinder in beiden Altersstufen mehr stereotype Behauptungen über die Frau und weniger über den Mann zur Verfügung als in anderen Ländern
(Williams
u.a. 1981). Daraus ist wohl zu schließen, daß ihnen kein inhaltlich ausgefülltes positives Männerbild im Unterschied zum Frauenbild vermittelt wird (was durchaus einschließt, daß kinderliebe Männer vorhanden sind und positiv gesehen werden; nur die andersartig ausgeprägte Männlichkeit steht nicht mehr hoch im Kurs). Die Tochter kann heute als künftige Frau sehr viel positiver begrüßt werden, als das in früheren Generationen der Fall war.
Die Heraustrennung eines Ich aus der Einheit mit der Mutter kann für das Mädchen allmählicher und ohne Betonung ihrer Geschlechtlichkeit geschehen. Die zwiespältigen und heftigen Gefühle gegenüber der Mutter sind ebenso wichtig, aber ihre direkte Äußerung gegen die Mutter schwieriger, weil die Grenzen nicht so klar sind. Auch wenn er die Macht der Mutter fürchtet, weiß der Junge sehr früh,
daß
er ein anderes als sie ist. Das Mädchen kann länger, unbefangener sich ins Einssein mit der Mutter fallenlassen und daraus Kraft ziehen, kann auch die Körperlichkeit der Mutter leichter in Anspruch nehmen; aber sie benötigt auch länger, um sich zu vergewissern, daß sie eine andere, getrennte Person ist. ihre Wut auf die Mutter muß nicht erst „nach innen“ gekehrt werden, um auch gegen sie selbst gerichtet zu sein.
Vieles, was über Mädchen berichtet wird, wird auf diesem Hintergrund verständlich. Mädchen äußern Aggressionen oft in anderen Formen als Jungen, beispielsweise indem sie die Vorschriften der Erwachsenen gegenüber anderen Kindern vertreten und sich damit ausgezeichnete Gelegenheiten zu Angriffen und Beschimpfungen verschaffen („prosocial aggression“ in der Forschung). Es hat den Anschein, als könnten Mädchen einen diffusen Aggressionsstau länger „aufheben“ als gleichaltrige Jungen. Beobachtet man z. B. eine erste Klasse nach Schulschluß, so kann man bei den Jungen einen regelrechten Ausbruch von gegenseitigem Boxen und Raufen erleben; die Aggressivität nach so vielen Stunden frustrierender Einschränkungen schwappt sofort über. Die Mädchen wirken zunächst ruhiger, doch nach einer oder mehreren Stunden, bei irgend einem kleinen „Unrecht“, das einen legitimen Anlaß zum Ärger bietet, werden sie von der gestauten Aggressivität überschwemmt. Statt grundlos loszuprügeln – halb Sport, halb Kampf – wird das Mädchen mit Zeitverzögerung unverhältnismäßig wütend, gemessen am Anlaß. (Später wird es heißen: „Sie ist hysterisch.“)
Vermutlich fällt es den Mädchen insgesamt (nicht nur gegenüber der Mutter) deshalb schwerer, sich aggressiv zu verhalten, weil ihnen Vorstellungen für die Bildung von Aggressionsphantasien fehlen. Damit die Menschen Gefühle haben, ist nicht nur Erregung nötig, die uns erfaßt, sondern auch Namen und Bilder für diese Erregung: Was sie ist, was sie meinen könnte. Traditionell weibliche Erziehung hat das Mädchen hierin oft gründlich enteignet (so sagte meine Großmutter zu ihrer Tochter immer nur: „Ich weiß, das hättest Du nicht getan, wenn Du gewußt hättest, daß es mich
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