Spademan: Thriller (German Edition)
Straßen. Die meisten New Yorker hatten, um ehrlich zu sein, den Times Square schon lange vorher abgeschrieben. Betrachteten ihn als eine Art Touristenreservat. Sie verfluchten die strahlenden Neonlichter, den Naked Cowboy und jede Art von Anlass, der einen dazu zwang, hier an einem Samstag aufzukreuzen und sich durch die träge internationale Masse kämpfen zu müssen.
Es dauerte nicht lange, und die echten New Yorker machten alle dieselben bösen Witze. Times Square? Dort hat der Kammerjäger zugeschlagen. Ha-ha-ha. Oder, Times Square? Ich hab gehört, der soll jetzt echt leuchten bei Nacht. Oder, Times Square? Endlich haben sie einen Weg gefunden, damit einem die Touristen auf dem Gehweg Platz machen. Oder, Times Square? Die haben da eine Bombe hochgehen lassen? Tja, wer von uns hat da nicht auch schon mal von geträumt.
Aber tatsächlich war der Ort verwüstet, die Touristen kamen nicht mehr, die Straßen verödeten, und schon bald packten auch die übrigen Leute ihre Koffer. Manche verzogen sich nach oben, in ihre verglasten Penthouses, und ergaben sich den Verlockungen der Limnosphäre. Die meisten aber verließen die Stadt, ließen sich an anderen Orten ohne einen toxischen Tumor im Herzen nieder.
Die Autobomben waren auch nicht gerade förderlich.
Aber Amerika ist groß, und die langdauernde Rezession hatte den Rest der Ostküste wirtschaftlich ausgehöhlt, daher war es nicht allzu schwer, irgendwo ein neues Haus, einen neuen Block, ein neues Viertel, einen neuen Job zu finden, in einer Stadt, die nicht über Nacht zur Hälfte verseucht war. Wo Sie nicht jeden Morgen, wenn Sie aus der Haustür traten, erst einmal in den Wind schnuppern mussten, um festzustellen, wie viel Tod darin zu riechen war und ob er heute in Ihre Richtung blies.
»Schleichende Apokalypse« wurde zum Schlagwort. Irgendein Zeitungsschreiber hatte diesen Begriff in einem wütenden Artikel über das langsame Sterben der Stadt geprägt.
Keine Zombie-Invasion. Keine Alien-Armada. Kein allesverschlingender Tsunami. Kein katastrophales Erdbeben.
Nur die graduelle Erosion des Willens, weiter hier auszuharren.
Aus einem Rinnsal wurde ein Strom, wurde eine Sturzflut, wurde ein Exodus.
Also, klar doch, Times Square?
Times Square hatte nicht allzu viele New Yorker getötet.
Aber es hatte New York getötet.
An dem Tag, als es geschah, schlief ich in Chinatown.
Tief in einem auf meine Bedürfnisse maßgeschneiderten Traum.
Erst vorgebeugt, im Wartezimmer eines Krankenhauses, meine Hände ringend.
Dann allgemeines Rückenklopfen und das Auswickeln von Zigarren.
An der Decke schweben leuchtend blaue Luftballons.
Glückwünsche von allen Seiten.
Meine Frau starb durch die erste Bombe, die in der U-Bahn. Die kleinere.
Die als Ablenkung gedacht war.
Auf ihrem Weg zum Schauspielunterricht.
In den Monaten danach konnte ich nur hoffen, dass sie gleich im ersten Waggon mitgefahren war. Dass sie direkt neben der Bombe gestanden hatte. Dass sie den Reißverschluss dieser gottverdammten Sporttasche geöffnet und ihren Kopf hineingesteckt hatte, unmittelbar bevor das Ding hochging.
Ich hoffte, dass sie in winzige Stück zerfetzt worden war.
Ich hoffte, dass sie nicht noch schwerverletzt und verstümmelt in dem finsteren Tunnel gelegen und auf die Sirenen und auf Hilfe gewartet hatte. Dass sie nicht mehr gehört hatte, wie sich die Einsatzkräfte vorsichtig ihren Weg nach unten gebahnt, sich ihr Schritt für Schritt durch das Wrack genähert hatten und dann durch die zweite Explosion getötet wurden.
Alle, die die erste Detonation überlebt hatten, waren durch die zweite Explosion gestorben.
Ich hoffte, es hatte sie bereits bei der ersten erwischt. Beim Ablenkungsmanöver.
Tja, so was geht heutzutage als Hoffnung durch.
21
Auf dem Weg zurück zu Marks Apartment mache ich einen Umweg über Hell’s Kitchen. Da Harrow die enormen Mietkosten für die Radio City Hall nur sonntags aufbringen will, hat er in einem ehemaligen Laden ein Gepflastert-mit-Gold-Kontaktzentrum eingerichtet, das gerade eben seine Pforten öffnet. Kräftige Männer tragen einen Ständer mit Broschüren vor die Tür, während eine propere Blondine in einem knielangen Rock die Kaffeemaschinen in Gang setzt. Alle wirken wie Missionare von weit her. Sie sehen zu gesund aus, um längere Zeit in New York verbracht zu haben.
Ich erspähe den ordentlich frisierten Platzanweiser von gestern. Er trägt heute keinen Anzug, sondern Freizeithosen mit scharfer Bügelfalte und ein
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