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Späte Familie

Späte Familie

Titel: Späte Familie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Zeruya Shalev
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dann fügt er hinzu, während sich seine schmale Brust vor Stolz bläht, mein Papa hat vor Freude geweint, als ich geboren wurde, und Gili wird sofort neidisch, woher weißt du das? Und Jotam sagt, das hat er mir gesagt und ich erinnere mich auch daran.
    An so etwas kann man sich nicht erinnern, sagt Gili verächtlich, stimmt’s, Mama? Und ich sage, manchmal bekommt man etwas so lebendig erzählt, dass man glaubt, sich daran erinnern zu können, und im Herzen wende ich mich an Jotam und füge hinzu, ich möchte auch sehen, wie dein Papa vor Freude weint, das ist es, was ich will, wenn es dir nichts ausmacht, und meine Aufregung wächst und erfüllt die ganze Wohnung, gleich wird er kommen, es ist schon spät, gleich wird das Klopfen an der Tür zu hören sein, wenn wir gerade beim Abendessen sind, wird er hereinkommen, er wird sehen, wie schön ich für seinen Sohn sorge und wie frisch der Salat ist, und riechen, wie gut das Rührei duftet, das ich für sie gemacht habe, er wird warten, bis Jotam fertig gegessen hat, und mir versprechen, späterzurückzukommen, aber nun räume ich den Tisch schon ab, und er ist immer noch nicht da, ich beschließe, noch einmal in der Praxis anzurufen, es ist schon nach acht, ich werde zur Sekretärin sagen, dass die Sache keinen Aufschub duldet, dass es um den Sohn des Doktors geht, ich bin nicht einfach eine lästige Patientin, ich beaufsichtige seinen kleinen Sohn, bei dessen Geburt er geweint hat, aber zu meiner Enttäuschung wird der Anruf nicht angenommen, die Stimme der Sekretärin auf dem Anrufbeantworter schlägt erneut höflich vor, eine Nachricht zu hinterlassen, und meine Laune verschlechtert sich, er wird nicht kommen, dieser Abend wird zu Ende gehen wie alle anderen Abende, in enttäuschter Ohnmacht.
    Ein dumpfes Geräusch lockt mich zur Tür, durch den Spion ist eine dunkle Gestalt in Mantel und Mütze zu sehen, und einen Moment lang erkenne ich sie nicht, weil sie so eingepackt ist, und habe das Gefühl, es könne ebenso jeder andere sein, jede Mutter, jeder Vater, jede Großmutter, und ich mache aufgeregt die Tür auf und statt seiner ersehnten Stimme dringt ein verschleimtes Husten an mein Ohr, und ich rufe, Michal, warum bist du aus der Wohnung gegangen! Du bist krank! In meiner Stimme liegt so viel Enttäuschung und Groll, dass sie mich entschuldigend anlächelt, überrascht von meinem Gefühlsausbruch. Ich hatte keine Wahl, sagt sie, und ich beschimpfe sie weiter, mein Zorn wird immer größer, das ist nicht in Ordnung, ich hätte ihn dir bringen können, du hättest in deinem Zustand das Haus nicht verlassen dürfen, sie ist offenbar gerührt davon, dass ich mir so viel Sorgen um sie mache, Tränen treten ihr in die Augen, aber das sind keine Freudentränen, und sie sagt, du weißt ja, wie das ist, von dem Moment an, in dem man Mutter wird, kann man einfach nicht mehr krank sein.
    Und wieder versuche ich mein Glück, diesmal wird es mirgelingen, dafür gibt es doch einen Vater, oder? Sie seufzt, Oded ist bei der Arbeit, und diese wenigen alltäglichen Worte sind wie ein Schlag ins Gesicht, Oded ist bei der Arbeit, wie viel Sicherheit und Ordnung liegt in dieser vertrauten Wortfolge, mein Mann ist bei der Arbeit, Papa ist bei der Arbeit, und plötzlich packt mich Hass auf ihn, du hast dich nicht getraut, du Angsthase, ich habe es geschafft, dich davon abzuhalten, warum ist das niemandem bei mir gelungen, und trotzdem schaue ich ihr zweifelnd ins Gesicht. Da nimmt sie die Wollmütze ab, und ihre Locken hängen traurig herab, ihre Augen sind verschwollen, die Nase rot, entweder vom Schnupfen oder vom unaufhörlichen Weinen, wer war es, der an jenem Schabbatmorgen geweint hat, war sie das, in einem Anfall verfrühter Eifersucht, auch damals ist er vor ihrem Weinen geflohen, hat düster sein Wasser im Gästeklo abgelassen, auch damals belauerte ich ihn, ohne es zu wissen. Nein, das ist nicht mehr das Gesicht, das ich gekannt habe, sie sieht vollkommen anders aus, komm, setz dich ein bisschen, schlage ich ihr vor, wenn du schon bis hierher gelaufen bist, ich mache dir einen heißen Tee mit Zitrone, und in Gedanken füge ich hinzu, und inzwischen kannst du mir erzählen, was wirklich mit deinem Leben los ist, aber sie lehnt ab, danke, Ella, ein andermal, ich muss wieder ins Bett. Müde treibt sie ihren Sohn zur Eile an, komm, Jotam, mit

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