Späte Familie
noch ein paar Worte oder Zahlen darauf geschrieben, zum Beispiel die Nummer seines Handys, aber ich entdecke keine zusätzliche Notiz, nur meinen Namen und den Namen des Medikaments, nebeneinander, mit langen, etwas zur Seite geneigten Buchstaben, ist das vielleicht ein Hinweis darauf, dass er nicht frei ist, dass er nicht interessiert ist?
Haben Sie ihm gesagt, dass ich hier warte, frage ich, und sie antwortet gleichgültig, natürlich habe ich das, dann läuft sie zum Telefon, das angefangen hat zu klingeln, und ich verschwinde schnell aus dem Gebäude und betrachte wieder das Stück Papier in meiner Hand, Schauer von Verzweiflung nehmen mir die Sicht, und ich lehne mich an den feuchten Stamm einer Kiefer, die mitten auf dem Platz steht wie ein Pfeil, der vom Himmel geschossen wurde, mein Leben, erneut leer geworden, läuft in seiner ganzen abstoÃenden Nacktheit vor mir ab, wie ein gekränktes Kind schimpfe ich laut, trommle mit den Fäusten gegen den Baumstamm, reiÃe wütend trockene Rindenstücke ab, versunken in meine Verzweiflung höre ich die Schritte nicht, die neben mir anhalten, bis Hände mich an den Schultern packen und eine tiefe, amüsierte Stimme an mein Ohr dringt, was ist los, mit wem redest du denn da?
Verlegen lasse ich den Stamm los und drehe mich zu ihm um, meine Finger, klebrig vom Harz, berühren erstaunt sein Gesicht, sein Lachen rollt durch meine Haare, ich habe dich enttäuscht, nicht wahr, fragt er, und ich bin durchsichtig wie ein Regentropfen, ich schaue von ihm zu dem Stück Papier, was ist wirklich, er oder der Zettel, schlieÃlich widersprechen sie sich. Warum hast du mir das angetan, frage ich, obwohl das jetzt nicht wichtig ist, überhaupt nicht wichtig,und er flüstert in meine Haare, um dich zu überraschen, wie können wir Freude ohne Kummer fühlen, sein Atem an meinem Ohr lässt mich erschauern, und ich sehe ihn an, seine Haut ist so hart und rau wie die Baumrinde, sein Gesicht schmaler, als ich es in Erinnerung habe, und seine Lippen zittern ein wenig, aber vielleicht sind es auch meine Lippen, aneinander gedrückt stehen wir mitten auf der Kreuzung, meine Hände tasten über sein dünnes Hemd, das ihm am Körper klebt.
Du hast noch immer keinen Mantel, frage ich, und er sagt, doch, ich habe einen, aber ich bin nur schnell hinuntergelaufen, um dich zu sehen, ich gehe sofort wieder hinauf, ich habe gleich einen Termin, und ich lasse ihn nicht los, wann treffen wir uns, frage ich, vorauseilend, als gehörte er schon mir, aber seine Stimme ist schon wie meine Stimme, drängend, begeistert, ich muss bis sieben arbeiten, sagt er, wo bist du heute Abend, und ich sage, wo du willst, ich kann hier auf dich warten oder in einem Café oder zu Hause, und er fragt, bist du heute allein, und ich antworte, ich bin nicht allein, ich bin mit dir.
Dann warte zu Hause auf mich, sagt er, ich komme zu dir, zum Abschied nimmt er meine Hände in seine, die kalt sind, und ich sage, aber du hast meine Adresse doch gar nicht, und er sagt, doch, ich habe sie, ich habe alles, was ich brauche, um zu dir zu kommen, und schon ist er verschwunden und lässt mich erstaunt mitten auf dem Platz zurück, noch nie im Leben hat sich mir ein Wunsch so vollkommen erfüllt, ich schmiege mich dankbar an den klebrigen Baumstamm, versuche, ihn an mich zu ziehen, als könnten wir gleich zusammen in einem wilden Tanz den Platz überqueren, wir werden zwischen den Autos hindurchhüpfen, die vor den Ampeln warten, wir werden an die geschlossenen Scheiben klopfen und spöttisch das Gesichtverziehen, die Gesetze der Wirklichkeit haben keine Macht mehr über uns.
Und dann denke ich, vielleicht bleibe ich bis sieben hier, neben dem Baum, er ist der einzige Zeuge des Wunders, das sich hier ereignet hat, ich werde hier im Regen auf ihn warten, um sicherzugehen, dass er sein Versprechen nicht vergisst, hier werde ich bleiben, weil es hier passiert ist, wenn ich es wage, mich zu entfernen, wird der Zauber vergehen und die Wahrheit ans Licht kommen, mein Herz hat fantasiert, meine Vorstellungskraft hat mich getäuscht, kann so etwas wirklich geschehen, etwas, was alle Hoffnungen übersteigt, als hätte er, genau wie ich, tagelang auf diese Gelegenheit gewartet, und er kennt meine Adresse, denke ich verwundert, so wie ich mich gewundert habe, dass er etwas von meinem Beruf wusste, als wäre ich seit jenem Morgen am Ende des Sommers
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