Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Späte Familie

Späte Familie

Titel: Späte Familie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Zeruya Shalev
Vom Netzwerk:
bedeutet nicht, dass du es dein Leben lang bereuen wirst, es bedeutet noch nicht einmal, dass es etwas zu bereuen gibt, sondern nur, dass du jetzt gegen alte, tiefe Kräfte ankämpfst, es ist wie eine Krankheit, die du jahrelang ausgebrütet hast und die jetzt ausbricht, deshalb brauchst du Hilfe, das bist du deinem Sohn schuldig, er bekommt mehr mit, als du weißt. Mir kommt es vor, als würde er meine Situation überhaupt nicht mitbekommen, sage ich, du hast keine Ahnung, welche Mühe ich mir gebe, ich verstelle mich die ganze Zeit, und sie lacht, dann verstellt er sich vielleicht auch, du denkstwohl, er kauft dir dein gezwungenes Lächeln ab und sieht nicht, was mit dir los ist, was deine Augen sagen? Kinder verstehen alles, Ella, merk dir das, du musst eine Therapie anfangen, für dich und für den Jungen.
    Der Junge. In manchen Momenten vergesse ich seinen Namen und nenne ihn so, der Junge, der kostbare Junge, den ich vergessen habe, der Schatten des wunderbaren Sohns, den ich hatte, das Zeichen des Bundes, den ich einst eingegangen war. Einen Moment lang stelle ich ihn mir vor, wie er mich als Baby angestrahlt hat, ein warmer Dunst stieg von ihm auf, wenn ich ihn in den Armen hielt, was versteht der Junge wirklich, der sich mit solcher Leichtigkeit mit allen Veränderungen abgefunden hat, außer mit einer, gegen die er kämpft, gegen die er sich mit aller Kraft auflehnt, als ob alles, was er besaß und nun verloren hat, all seine Sehnsüchte und sein Verlangen dort münden, in der mit Büchern voll gestopften Dachwohnung seiner Großeltern mit den hohen Decken und den Bogenfenstern, die auf Ziegeldächer in den Farben von Erde und Wein blicken.
    Mama, ich möchte zu Opa und Oma, jammert er fast jeden Abend, wie ein Gebet vor dem Einschlafen, ich war schon so lange nicht mehr dort, sogar an den Feiertagen sind wir nicht zu ihnen gegangen, und ich weiche aus, diese Woche geht es nicht, Opa ist im Ausland und Oma ist krank, vielleicht nächste Woche, und er kann sich besser als ich an meine schwachen Ausreden erinnern, ist Opa schon zurück, fragt er ein paar Tage später, ist Oma wieder gesund? Und ich tue so, als würde ich seine Absicht nicht verstehen und mich erst erinnern, ach so, ja, das heißt nein, er ist noch mal weggefahren, sie ist noch mal krank geworden, ältere Leute sind im Winter immer krank. Aber im vergangenen Winter war sie nicht krank, protestiert er mit einem misstrauischen Blick, sie hat mich einmal in der Woche vom Kindergartenabgeholt und Hühnersuppe für mich gekocht, und Großvater hat mir Schach spielen beigebracht, einmal habe ich sogar gegen ihn gewonnen, er schmiegt sich an seine kurze Biografie, ich möchte, dass sie mich morgen von der Schule abholt, und ich sage, morgen geht es nicht, vielleicht nächste Woche, und im Stillen verfluche ich die beiden, ein herzloses Paar Mammute, warum habe ich nicht einfach zu ihm gesagt, sie seien gestorben, ausgelöscht worden, wie sie es von ihm erwartet haben, dann hätte es ihm nichts ausgemacht, er hätte nicht gefragt, leben sie wieder? Sind sie schon aus dem Grab auferstanden? Aber mir ist klar, dass seine Stimme, die verwundert und verwaist klingt, meine Stimme ist, schließlich vergeht kein Tag, ohne dass ich an sie denke, ohne dass ich plane, wie ich eines Morgens zu ihnen gehe, ohne zu klingeln die Tür aufmache und ins Zimmer platze, da bin ich, Papa, ich bin zurückgekommen, um dein gutes Mädchen zu sein, ich habe versucht, zu Amnon zurückzugehen, aber er war nicht bereit dazu, was meinst du, solltest du jetzt nicht auch ihn zu einem Treffen einladen, auch ihn mit deinen wütenden Prophezeiungen erschrecken, wie du mich erschreckt hast, so sehr, dass ich dachte, ich könnte mich nie im Leben davon erholen, sag ihm doch, wie zweifelhaft das Glück ist, erzähl ihm von Gilis Schicksal, von all den Grausamkeiten der Seele. Ein bisschen törichte Hoffnung umhüllt mich, er kann alles reparieren, alles, wenn er nur wollte, wenn er nur überzeugt wäre, dass meine Absichten rein sind, aber wenn ich manchmal an ihrem Haus vorbeigehe, renne ich wie um mein Leben.
    Auf halbem Weg zwischen uns und der Schule befindet sich das Haus, und wenn ich mit Gili auf dem Heimweg bin, achte ich darauf, eine Seitenstraße einzuschlagen, damit er nicht merkt, wie nah es ist, damit er mich nicht mit Wünschenbedrängt, die ich nicht erfüllen kann, ich

Weitere Kostenlose Bücher