Späte Familie
das ich mir vorgestellt hatte, ein ruhiges, gelassenes Leben, morgens würde ich an meiner Arbeit schreiben, nachmittags mit Gili spielen und nachts allein sein, und wenn in mir eines Tages das Interesse an einem Mann erwachen sollte, dann könnte ich leicht einen bekommen, frei mit einem Sohn, ist das nicht der verführerischste Familienstand, aber wenn ich mich morgens vor dem Computer winde und versuche, die schlimmste Naturkatastrophe der Antike zu beschreiben, schiebt sich unsere eigene Geschichte zwischen die alten Fresken, die erstaunlich gut erhalten sind, ich denke daran, wie er mich Pariserin genannt und das Dia aus der Tasche gezogen hat, schau selbst, sagte er, du bist von dort, von Thera, viertausend Jahre alt, unglaublich, und ich hielt das Dia gegen das Licht, sah meinen hochmütigen Blick in dem blassen vornehmen Gesicht, die kräftig rot gemalten Lippen, das geschmückte Haar.
Sie war vermutlich eine Priesterin, sagte er, aber die Archäologen haben sie Pariserin genannt, wegen der Frisur und der Schminke, was für Dummköpfe, als hätte man sich in der Welt der Antike nicht geschmückt, und er streckte die Hand nach meinem Kinn aus und drehte mein Gesicht von einer Seite zur anderen, schaute von mir zum Dia, und ich erinnere mich, was er am selben Abend zu mir sagte, als wir zum ersten Mal über die offene Ausgrabungsstätte spazierten, die Wärme verströmte wie ein fiebriger Körper, du bist eine Simulantin, du bist überhaupt keine richtige Archäologin, dich interessieren nur Märchen, Geschichten, und heute, wenn ich versuche, die Funde wissenschaftlich zu beschreiben, merke ich, wie sehr er Recht hatte, nur die Geschichten interessieren mich, nur unsere Geschichte, die in Tel Jesreel begann und in der Stadt Jerusalem endet, zehnJahre später, in einer Dreizimmerwohnung in einem der alten Viertel, und es kommt mir vor, als sei der letzte Abschnitt der Ausgrabungsteil, dessen Funde ich mit Fotos und Zeichnungen dokumentiere, genau dort, in Gilis Zimmer, in seinem Bett, dort hat sein Körper meinen zum letzten Mal bedeckt und dorthin kehre ich morgens zurück, vor Kälte zitternd, versuche, mir seinen erhitzten Körper auf meinem vorzustellen, denn je mehr Zeit vergeht, desto genauer wird die Erinnerung, bis ich mir für ein paar Minuten einbilde, dass ausgerechnet dort unsere Liebe absolute Reinheit und Einzigartigkeit erreicht hat, ausgerechnet dort vereinigten sich unsere Körper mit unvergleichlicher Kraft, der Kraft seiner Kränkung und seines Leids, der Kraft meiner Weigerung und Hartnäckigkeit und meiner Rachsucht, und wenn ich mich auf die kleinen weichen Tiere lege und die stumpfen Augen der Löwin betrachte, ihre erweiterten Pupillen, dann weià ich, dass dies meine Augen sind, die ihn so angeschaut haben, ihn, der mir am teuersten ist, meine leeren gläsernen Augen, und ich versuche ihn auf das Bett zu ziehen, für jenen Tag ein anderes Ende zu erfinden, jenen letzten Tag in unserem Leben als Familie.
Unter Gilis Federbett füge ich mich seinem Körper, versuche, das alte, begrabene Verlangen in meinen Gliedern wiederzubeleben, ich muss es nur finden, und in dem Moment, wenn ich meine Hand auf ihn lege, löst er sich langsam auf, der vertraute Körper verwandelt sich in einen riesigen Irrgarten, wie der Palast des Minos auf Knossos, dort lebt der bedrohliche Minotaurus, halb Stier, halb Mensch, der junge Opfer liebt, Knaben, Mädchen, und dann sinkt für wenige Augenblicke Schlaf auf mich, ein Schlaf wie verbrannter Zucker, aus dem ich erschrocken hochfahre, ich muss den Jungen abholen, ich werfe einen Blick auf die Uhr, aber es sind nur ein paar Minuten vergangen, eine kurzeZeit, so kurz gegen die vielen langen wachen Stunden, und in meinen Fantasien, die immer mehr Gewalt über mich gewinnen, kommt es mir vor, als wären sie dort, meine Geliebten, meine Familie, im Zimmer nebenan, genau auf der anderen Seite der Wand, ich kann sie hören, so wie ich sie immer gehört habe, Papa, ich habe Hunger, was soll ich dir machen, ein Fladenbrot mit Schokolade, wie wärâs denn mit Obst, oder ich schäl dir eine Mohrrübe, nein, ich will ein Fladenbrot mit Schokolade, Papa, schau mal, was ich gemalt habe, wie schön, mein SüÃer, Papa, wo ist Mama, sie schläft, sie fühlt sich nicht wohl, wann ist sie wieder gesund, bald, morgen fühlt sie sich bestimmt besser.
Wo ist es, das
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