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Späte Familie

Späte Familie

Titel: Späte Familie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Zeruya Shalev
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drehe ihn im Kreis, wie man Gefangene im Kreis dreht, damit sie die Orientierung verlieren, und wenn ich ihm Augenklappen anlegen könnte, würde ich nicht zögern, es zu tun, aber an irgendeinem Tag, als wir das Schulhaus verlassen, ich mit seinem Ranzen über der Schulter, seine Hand in meiner, fallen uns ein paar Regentropfen aus einem plötzlich grau gewordenen Himmel ins Gesicht, und ich treibe ihn an, wähle den kurzen Weg, und wir nähern uns rennend ihrer Straße, jetzt ist es mir auch schon egal, es erwacht sogar wieder die Hoffnung und wird immer stärker, wie der Regen, vielleicht wird es heute passieren, vielleicht werden sie am Fenster stehen und uns unten vorbeirennen sehen, vielleicht wird Gili ihr Haus erkennen und von mir verlangen, die Treppe hinaufzugehen, und dann werde ich keine Wahl haben und es tun müssen.
    Als wir uns dem Gebäude nähern, verlangsame ich meine Schritte und warte darauf, dass er etwas sagt, aber er hat den Kopf gesenkt, erzählt mir von einem Streit mit Jotam, was für ein blöder Junge er ist, schimpft er, nie wieder gehe ich zu ihm, den ganzen Tag petzt er nur und weint, und ich erinnere mich an das unterdrückte Weinen, dass aus einem der Zimmer gedrungen war, an den Glanz des Morgens, der plötzlich gebrochen war, und ich habe das Gefühl, als hätte die Sonne seit damals nicht mehr geschienen, aber jetzt hebt er den Kopf, und ich sehe, wie sein grünlich blasses Gesicht plötzlich strahlt, als er sagt, Mama, das ist das Haus von Opa und Oma, stimmt’s? Und ich murmle, ja, wir gehen hier immer vorbei, es liegt auf unserem Weg, und er zieht mich am Arm, Mama, wir gehen zu ihnen, auch wenn Oma krank ist, das ist mir ganz egal, und ich nicke mit einem gespielten Seufzer, denn ohne ihn würde ich es nie wagen, hinaufzugehen, ich schiebe ihn vor mir her.
    Oma, Oma, ich bin’s, ruft er begeistert, schlägt mit seinen kleinen harten, nussbraunen Fäusten an die Tür, reißt sie auf und trabt wie ein Fohlen in den Flur. Gili, was für eine Überraschung, sie kommt aus der Küche und läuft ihm entgegen, ihre weißen Haare sind unordentlich, der Ausdruck auf ihrem Gesicht ist zwiespältig, einerseits zeigt es ihre Freude, uns zu sehen, doch auch ihre Angst vor der Reaktion meines Vaters, der sich in seinem Arbeitszimmer eingeschlossen hat, und Gili drückt sich an ihre Hüfte, ich bin so froh, dass du wieder gesund bist, Oma, und sie wundert sich, gesund? Ich war schon lange nicht mehr krank, und als er mich erstaunt und misstrauisch anguckt, mache ich mir nicht einmal die Mühe, meine ewigen Ausreden zu vertuschen, im Moment ist das meine kleinste Sorge. Sie umarmt mich besorgt, du siehst schlecht aus, Ellinka, du bist ein wandelndes Gerippe, und Gili hört ihr fasziniert zu, allein die Tatsache, dass ich die Tochter von jemandem bin, versetzt ihn immer in Erstaunen und Begeisterung, ein Reiz aus Vergnügen und Ärger, und er verkündet, dann mach ihr was zu essen, sie ist doch deine Tochter, und meine Mutter sagt, ja, kommt mit in die Küche, und auf dem Weg flüstert sie mir ins Ohr, ich hoffe, dass dein Vater nicht wütend wird, er hat gesagt, es falle ihm schwer, den Jungen zu sehen, und ich zische, wage es nicht, diese Worte noch einmal zu wiederholen, wann versteht ihr endlich, dass es hier um den Jungen geht und nicht um euch, Gili leidet darunter, dass er euch nicht mehr sieht, ihr könnt mit euren Schwierigkeiten fertig werden, ihr seid die Erwachsenen, und sie fängt wieder an, mich brauchst du nicht zu überzeugen, Ellinka, das Problem ist er, dein Vater, und ich sage, lass mich dieses Problem lösen, ich werde mit ihm sprechen.
    Da ist sie wieder, diese Schwäche in den Knien, die Angst angesichts seiner konzentrierten Haltung, bewegungslos vordem Computer, in seinem altersgrauen Pullover, rau wie Verputz, sitzt er da, seine Hände schweben über der Tastatur, vermutlich arbeitet er an seinem nächsten Vortrag, den er bei einem der vielen Kongresse halten möchte, zu denen er eingeladen wird, neben ihm steht eine Glasschale mit einem geschälten und zerteilten Apfel, jede Stunde schält sie ihm einen neuen Apfel, auch wenn er den alten nicht angerührt hat, und ich schließe geräuschvoll die Tür hinter mir, erst da dreht er sich um, sein bronzefarbenes Gesicht erwacht langsam zum Leben, er bewegt seine Füße, die in dicken Wollsocken

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