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Späte Familie

Späte Familie

Titel: Späte Familie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Zeruya Shalev
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groß du geworden bist, mein Schatz, kannst du noch Schach spielen? Klar kann ich es noch, ruft Gili, komm, spielen wir, du wirst schon sehen, dass ich gegen dich gewinne, er prahlt, das Herz läuft ihm über vor Freude über dieses Treffen, und meine Mutter legt eine karierte Decke über mich, ihreoffen zur Schau getragene Sorge bedrückt mich eher, als dass sie mich beruhigt. Was ist mit dir, will sie wissen, du siehst krank aus, wann warst du das letzte Mal beim Arzt, ich habe dir schon ein paarmal gesagt, dass du eine Blutuntersuchung machen lassen musst, wann wirst du endlich auf mich hören, und sie legt die Hand auf meine Stirn und stößt einen Schrei aus, als hätte sie sich verbrannt, du kochst ja, Ellinka, David, schau, sie ist kochend heiß, und ich versuche, mich aufzurichten, eine Welle von Übelkeit lässt mich zurücksinken, bring eine Schüssel, flüstere ich, aber sie ist nicht schnell genug, es scheint, als stiege alles, was ich im Lauf von sechsundsechzig Tagen nicht über die Lippen gebracht habe, jetzt in meiner Kehle auf und bräche bitter aus mir heraus auf ihre Betten, und alles, was ich in den letzten sechsunddreißig Jahren nicht zu sagen gewagt habe, wäre bei hohem Fieber zusammengeschmolzen und hätte sich in einen sauren, zähen Brei verwandelt.
    Sarah, sie übergibt sich, schreit er, und meine Mutter murrt, kein Wunder, sie achtet nicht auf sich, sie hat noch nie auf sich geachtet, geht raus, ihr beiden, sie drängt sie zum Wohnzimmer, drückt mir eine Waschschüssel in die Arme, zu spät, Mama, siehst du nicht, dass es zu spät ist. Du bist wieder ohne Mantel aus dem Haus gegangen und vollkommen nass geworden, klagt sie, glättet mit ihren dicken Fingern meine Stirn, dir macht es nichts aus zu frieren, Hauptsache, du siehst schön aus, wie oft habe ich dir gesagt, du sollst dich warm anziehen, und so wie immer spricht sie nicht mit mir, sondern mit dem jungen Mädchen, das ich einmal war, ich werde von den Wellen der Übelkeit weggetragen, von riesigen Wellen, trocken und durchsichtig wie Glas, ich krümme mich über der Schüssel zusammen, dabei habe ich absichtlich jenen Pullover dagelassen, den ich für dich gestrickt habe, fährt sie fort, ich bin sicher, dass du ihnkein einziges Mal getragen hast, er ist dir nicht schön genug, das Wichtigste ist dir immer die Schönheit, aber was ist mit der Gesundheit, schimpft sie, es ist besser, weniger schön zu sein und dafür behutsamer mit sich umzugehen, schau dir deine Freundinnen an, die weniger erfolgreich waren als du, die sind glücklich verheiratet mit drei Kindern, und was ist mit dir, du stehst jetzt da, ohne Mann.
    Mein Kopf sinkt erschöpft in die Schüssel, ihr Gerede summt um mich herum wie eine Wolke Mücken an einem heißen Tag, aber sie lässt mich nicht die Augen zumachen, komm zur Dusche, plappert sie, in der Zwischenzeit werde ich die Bettwäsche wechseln, und sie fasst mich um meine zerbrechlichen Hüften und schleppt mich zu dem großen weiß gekachelten Badezimmer, sie zieht mich aus, ihre Augen mustern mich mit offener Neugier, schau dich an, wie ein junges Mädchen, erklärt sie bitter, seit du zwölf warst, bist du nicht mehr gewachsen, sie ist, obwohl im Alter geschrumpft, noch immer größer als ich, und ich zittere vor Kälte unter ihrem Blick, versuche, meine Blöße zu bedecken, was wunderst du dich, Mama, wir wissen beide die Wahrheit, nur seinetwegen bin ich nicht gewachsen, hast du vergessen, wie erschrocken er über meine ersten Anzeichen von Weiblichkeit war, hast du vergessen, was mit meinem ersten Büstenhalter passiert ist, den ich aus Versehen im Badezimmer liegen gelassen habe, wie er mir durch das Haus gefolgt ist und ihn hin und her geschwenkt hat, ich erlaube dir nicht, solche Dirnenwäsche zu tragen, und am Schluss hat er ihn aus dem Fenster geworfen, den schwarzen Batistbüstenhalter, auf den ich so stolz war, und du hast gewartet, bis es dunkel war, dann bist du auf Zehenspitzen hinausgeschlichen und hast ihn zwischen den Bäumen gesucht, aber er war nicht mehr da, ein anderes junges Mädchen hat ihn vor dem Spiegel anprobiert, frei von dieser bedrückendenSchuld, und am nächsten Tag bekam ich einen neuen Büstenhalter, einen einfachen, wie alle Mädchen, einen, auf den man nicht stolz sein konnte.
    Er hatte Angst vor der Anwesenheit einer jungen Frau im

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