Späte Heimkehr
Mutter hatte sich in ihr Schlafzimmer zurückgezogen und Diet und Tucker bereits ins Körbchen gebracht. Der andere Teil des Hauses lag kalt und düster da.
Er öffnete die Tür zu seinem alten Kinderzimmer, knipste das Licht an und betrachtete die darin versammelten Erinnerungsstücke aus seiner Jugend und der Schulzeit. In diesem Moment schwappte eine Welle der Einsamkeit über ihn, ein altbekannter Schmerz, den er lange verdrängt hatte. Er dachte an die Nächte im Internat, in denen er sich, tief in sein Kissen gedrückt, in den Schlaf geweint hatte. Tage und Nächte hier in seinem Zimmer, an denen er sich nach der Fröhlichkeit und dem Zusammenhalt einer Familie gesehnt hatte … nach einer Familie wie der der McBrides.
Er hatte einen Vater, mit dem er sich nicht verstand und dem er es niemals recht machen konnte, und eine Mutter, die nur noch ihre Hunde zu lieben schien, die sie anhimmelten und keinerlei Ansprüche an sie stellten. Nein, so wollte er nicht leben. Geld, Sicherheit, Status – das war nicht das, worauf es ankam. Aber in Armut zu leben war auch keine Lösung.
Barney schaltete das Licht aus und ging schnell aus dem Zimmer. Er würde sein Kind auf keinen Fall dazu verdammen, eine so gefühlsleere und einsame Kindheit zu durchleben wie er selbst. Abby und er würden es schaffen, ihrem Kind ein glückliches Familienleben zu schenken. Irgendwie.
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Zwölftes Kapitel
M rs. Doherty, ein treues Mitglied der Landfrauenvereinigung, eilte in vernünftigen flachen Schuhen mit einem Einkaufskorb am Arm auf das Kurzwarengeschäft zu. Das taillierte geblümte Kleid mit dem weiten Rock, den Puffärmeln und den Perlmuttknöpfen betonte ihre kräftige Figur besonders. Bei jedem ihrer energischen Schritte wippten auf ihrem Strohhut kleine Plastikkirschen im Takt mit. Sie konnte es kaum erwarten, zu berichten, was ihr über Barney Holten zu Ohren gekommen war.
Sobald sie sich der gespannten Aufmerksamkeit der Ladenbesitzerin sicher war, ging sie ins Detail: »Ganz recht. In die Stadt. Erst vor zwei Tagen ist er umgezogen. In das Haus, in dem die Undersides wohnten, bis der alte George starb. Er wohnt zur Miete dort und nur vorübergehend, wie mir gesagt wurde. Es muss einen schrecklichen Streit auf Amba gegeben haben.«
Die Frau auf der anderen Seite der hölzernen Ladentheke war völlig aus dem Häuschen: »Worüber wohl?«
»Bestimmt ging es um ein Mädchen. Und ich glaube, ich weiß sogar, um welches«, sagte Mrs. Doherty triumphierend und lächelte vielsagend.
»Barney, ich kann einfach nicht glauben, dass du das getan hast«, flüsterte Abby in den Telefonhörer.
»Soll ich in der Mittagspause bei dir vorbeikommen? Jetzt, wo ich in der Stadt wohne, habe ich es ja nicht mehr weit«, sagte er und versuchte, unbekümmert zu klingen.
»Hältst du das für klug? Vielleicht sollten wir uns lieber eine Weile nicht zusammen sehen lassen. Wahrscheinlich weiß schon jetzt die ganze Stadt, dass du bei deinen Eltern ausgezogen bist.«
»Die Leute werden sowieso früh genug von uns erfahren, Abby.«
»Was hast du jetzt vor, Barney?«
»Das sage ich dir, wenn wir uns sehen. Ich bin mit meiner Mutter vormittags zum Tee verabredet. Sie musste zu einer Nachuntersuchung ins Krankenhaus.«
»Barney, Ich weiß nicht, ob es heute mit der Mittagspause klappt. Dr. Malone hat sehr viel zu tun … vielleicht morgen …«
Barney spürte die Unschlüssigkeit in ihrer Stimme und war einen Augenblick lang gekränkt, aber dann riss er sich zusammen und sagte sanft: »Du musstest in der letzten Zeit eine Menge verkraften, nicht wahr? Dann treffen wir uns eben morgen. Ist denn bei dir alles in Ordnung?«
»Ja, Barney. Ich bin nur ein bisschen durcheinander. Ich fühle mich verantwortlich für das, was du jetzt durchmachen musst.«
»Dafür bin ich selbst genauso verantwortlich, Abby«, sagte er liebevoll. »Zum ersten Mal nehme ich mein Leben in die Hand und stelle mich der Verantwortung für das, was ich tue. Wir sprechen morgen darüber. Ich liebe dich, Abby.«
In der Mittagspause schlenderte Abby tief in Gedanken versunken bei strahlendem Sonnenschein die Hauptstraße hinunter. Das Gefühlschaos um sie und Barney verwirrte und überforderte sie. Dabei hatte alles so einfach ausgesehen. Und jetzt war ihr ganzes Leben auf einmal in Aufruhr geraten wie der überflutende Strom, von dem ihre Mutter gesprochen hatte. Sie hoffte, der Spaziergang würde ihr den Kopf wieder etwas frei machen, aber wie immer
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