Späte Reue: Josef Ackermann – eine Nahaufnahme (German Edition)
sei bereits erkennbar. Josef Ackermann tut es ihm auf der jährlichen Handelsblatt -Bankentagung nach: »Wir kommen in eine Phase der Stabilisierung.« Immerhin fügt er noch hinzu: »Falls nicht erneut eine Großbank in Schwierigkeiten gerät.«
Konkret auf die Probleme von Lehman angesprochen, hält der Schweizer eine Pleite für unwahrscheinlich: »Alle Beteiligten sind sich ihrer Verantwortung bewusst. Ein Kollaps würde eine weitere Welle von Verlusten und Abschreibungen bei allen Banken nach sich ziehen, aber davon gehe ich nicht aus.« Es ist halb Pfeifen im dunklen Walde, halb Warnung. Ackermann kann sich, wie nahezu alle in der Finanzindustrie, nicht vorstellen, dass die US -Regierung das 158 Jahre alte Traditionshaus fallenlässt.
Er sollte sich gründlich irren. US -Finanzminister Paulson glaubt, dass die großen Banken an der Wall Street ausreichend Zeit hatten, sich auf einen Absturz von Lehman vorzubereiten, und geht aufs Ganze. Am Freitagabend um 18 Uhr eröffnet er den führenden Vertretern der amerikanischen Finanzbranche in der wuchtigen Niederlassung der Fed zwischen Liberty Street und Maiden Lane in Downtown Manhattan, es gebe »keine gesetzliche Grundlage für ein Eingreifen« des Staates. Die Branche müsse selbst eine Lösung finden. Zwar unterstützt er Versuche, die taumelnde Investmentbank zu verkaufen – zuerst an die Bank of America und dann an die britische Barclays-Bank. Doch ein Deal kommt nicht zustande, obwohl die führenden US -Banken schließlich sogar gemeinsam einen Risikoschirm in Höhe von über 30 Milliarden Dollar anbieten. Das Misstrauen sitzt bereits zu tief. Ohne staatliche Abschirmung der enormen Risiken wagt es niemand, bei Lehman zuzugreifen.
Washington aber hat sich festgelegt: kein Steuergeld mehr für Banken. Die USA stehen sieben Wochen vor der Wahl ihres nächsten Präsidenten. Main Street hat Vorfahrt vor Wall Street. Die Administration des scheidenden republikanischen Präsidenten George W. Bush sieht sich wegen der Milliarden-Hilfen für die Rettung von Bear Stearns sowie die Baufinanzierer Fannie Mae und Freddie Mac bereits heftiger Kritik aus beiden Lagern des Kongresses ausgesetzt.
So geschieht das Undenkbare: Am Sonntagmittag New Yorker Zeit steht praktisch fest, dass Lehman Konkurs anmelden muss. Der offizielle Antrag geht am frühen Montagmorgen, dem 15 . September 2008 , beim US Bankruptcy Court, Southern District of New York ein und bekommt das Aktenzeichen 08 - 13555 . Noch am selben Tag erklärt die britische Barclays Bank, aus der Konkursmasse des kollabierten Geldhauses das amerikanische Investmentbankgeschäft samt Firmenhauptquartier am Times Square übernehmen zu wollen. Das Abwarten hat sich gelohnt. Jetzt können die Briten günstig eine Plattform erwerben, um ihr US -Geschäft auszubauen.
Zeitgleich mit dem Lehman-Konkurs flüchtet sich Merrill Lynch für 50 Milliarden Dollar in die Arme der Bank of America. Die Investmentbank hatte als der nächste Dominostein an der Wall Street gegolten. Ihre Aktie war am Freitag schon um über 12 Prozent eingebrochen. Im Verlauf des Wochenendes sei deutlich geworden, so ihr Chef John Thain, dass sich unabhängige Investmentbanken künftig nur noch sehr schwer finanzieren könnten. Von fünf reinen Investmentbanken in den USA sind binnen kurzer Zeit drei verschwunden. Übrig bleiben nur Goldman Sachs und Morgan Stanley. »Die Wall Street, die wir kennen, hat aufgehört zu existieren«, schreibt das Wall Street Journal . Die »Herren des Universums« sind entzaubert.
Josef Ackermann erfährt am Sonntagabend, dass die Pleite von Lehman unmittelbar bevorsteht. Er sitzt im Auto auf dem Rückweg von Zürich, wo er das Wochenende verbracht hat, nach Frankfurt und liest Unterlagen, als sein Mobiltelefon klingelt. Am anderen Ende der Leitung ist Seth Waugh, sein Statthalter in den USA . Der berichtet ihm, dass alle Rettungsversuche gescheitert seien, die Finanzgemeinde in New York treffe bereits Vorbereitungen für den nächsten Morgen, wenn die Börsen wieder öffnen.
Der Deutsche-Bank-Chef kann die Nachrichten aus den USA kaum glauben. Er hatte bis zum Schluss darauf gesetzt, dass Lehman aufgefangen würde. Zu viel stand auf dem Spiel – Wahlkampf hin oder her. Und im Finanzministerium in Washington hatte mit dem Ex-Goldman-Chef Henry Paulson schließlich ein Vollprofi das Sagen. Sein erster Gedanke: »Das ist der GAU .« Zwar war sein Haus schon einige Zeit auf den Worst Case bei Lehman eingestellt, die
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