Späte Schuld
eingeschaltet und verfolgten gespannt den Claymore-Prozess. Während der letzten halben Stunde hatte der Sender ausführliche Analysen verschiedener Rechtsexperten ausgestrahlt, darunter Verteidiger, Strafverfolger und ein Geschworenenpsychologe. Jetzt zeigten die Kameras wieder den Gerichtssaal, wo hektische Betriebsamkeit verriet, dass das Gericht seine Sitzung in Kürze fortsetzen würde.
Plötzlich griff sich Louis Manning an die Brust und fing an zu husten.
»Was ist los?«, fragte der Polizist.
»Mein He… He… Herz.«
Der Beamte verstand sofort und stellte seinen Kaffeebecher auf dem Nachtschränkchen ab, bevor er aus dem Zimmer rannte, um eine Krankenschwester oder einen Arzt zu rufen. Sobald er draußen war, machte sich Manning an die Arbeit: Er zog die Schlaftabletten aus der Nachttischschublade und ließ sie in den Kaffeebecher des Polizisten gleiten. Umrühren hielt er für unnötig, da die Hitze des Kaffees die Tabletten auch so auflösen würde. Dann täuschte er weiter seinen Hustenanfall vor.
Kurz darauf kam der Polizist mit einer Krankenschwester zurück ins Zimmer. Manning verlängerte den Abstand zwischen den einzelnen Hustenkrämpfen, um den Eindruck zu erwecken, er bekäme sich langsam wieder unter Kontrolle. Dann sagte er zur Krankenschwester: »Tut mir leid, ich muss wohl den Kaffee in den falschen Hals gekriegt haben.«
Die Krankenschwester warf dem Beamten einen gereizten Blick zu. Er zuckte kleinlaut mit den Schultern.
»Hatten Sie nicht gesagt, dass Ihr Herz wehtut?«, fragte er Manning.
»Entschuldigung. Ich dachte wirklich, es wäre das Herz. Ich wollte keine Panik auslösen.«
Die Krankenschwester untersuchte ihn kurz und verließ dann den Raum, während es sich der Polizist wieder mit seinem Kaffee vor dem Fernseher bequem machte. Aber seine Laune hatte sich merklich abgekühlt.
Mittwoch, 2. September 2009 – 10.45 Uhr
Nachdem alle wieder im Gerichtssaal versammelt waren und die Richterin ihren Platz eingenommen hatte, stand Andi selbstsicher von ihrem Stuhl auf.
»Euer Ehren, die Verteidigung ruft Eugenia Vance in den Zeugenstand.«
Der Gerichtsdiener öffnete die Tür zum Wartezimmer der Zeugen. »Eugenia Vance wird hereingebeten!«
Es folgte ein Moment der Anspannung, in dem Andi die Luft anhielt und sich fragte, ob ihre Freundin wirklich auftauchen würde. Sie hatte seit einer Woche nichts mehr von ihr gehört. Ihre Hoffnung, Gene würde sie anrufen und den ersten Schritt in Richtung Versöhnung machen, hatte sich nicht erfüllt. Vermutlich hatte Gene dasselbe von ihr erwartet. Wie sollten sie sich auch wieder vertragen, solange diese Angelegenheit zwischen ihnen stand? Und wie sollte Andi über Genes Verfehlung hinwegsehen, solange sie einen Mandanten hatte, zu dessen bestmöglicher Vertretung sie per Amtseid verpflichtet war?
Es dauerte etwa eine halbe Minute, bis Gene endlich aus dem Wartezimmer in den Gerichtssaal trat. Nach einigen Schritten blieb sie stehen und sah Andi nervös an. Auf ihrem Gesicht lag keine Wut, keine Spur von Feindseligkeit, nur Selbstmitleid und Verwirrung. Der Gerichtsdiener kam ihr entgegen und führte sie zum Zeugenstand.
Mit einer kurzen Frage brachte die Assistentin der Richterin in Erfahrung, dass Gene Atheistin war, und reichte ihr die Karte mit den Worten, die sie zur eidesgleichen Bekräftigung sagen musste.
»Hiermit bekräftige ich feierlich, dass ich vor Gericht die Wahrheit sagen werde, die ganze Wahrheit und nichts als die Wahrheit.«
Die Assistentin nahm wieder Platz, und Gene musste sich allein dem durchdringenden Blick der Frau stellen, die bis letzte Woche ihre Lebensgefährtin gewesen war.
»Sie sind Eugenia Vance?«, fragte Andi.
»Ja.«
Sie bat Gene, ihre Adresse fürs Protokoll anzugeben. Es kam ihr albern vor, sie nach der gemeinsamen Adresse zu fragen, aber das Gerichtsprozedere verlangte es nun mal so.
»Miss Vance, ich möchte keine Zeit verlieren und gleich auf den Punkt kommen. Sie arbeiten bei ›Sag Nein zu Gewalt‹, einem Krisenzentrum für Vergewaltigungsopfer in Los Angeles, ist das korrekt?«
»Ja.«
»Und hatten Sie in Ihrer Funktion als Opferbetreuerin Gelegenheit, eine junge Frau namens Bethel Newton kennenzulernen?«
»Ja.«
»Wurden Sie am 12. Juni per richterlicher Anordnung aufgefordert, jeglichen Kontakt zu Bethel Newton einzustellen?«
Sarah Jensen saß in Lauerstellung da, jederzeit bereit, aufzuspringen und Einspruch zu erheben, falls Andi übers Ziel hinausschoss. Aber sie
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