Späte Schuld
spürte, dass etwas im Busch war, und wollte auch den Rest hören.
Gene schwieg, und Andi fuhr fort: »Wir haben bereits von Bethel Newton erfahren, dass sie anfangs dachte, der Vergewaltiger sei ein junger Mann zwischen zwanzig und dreißig. Später änderte sie dann ihre Meinung und behauptete, es handele sich um einen Mann von Mitte fünfzig. Hatten Sie irgendetwas mit diesem plötzlichen Sinneswandel zu tun?«
»Wie meinen Sie das?« Gene war sichtlich nervös. Sie wusste genau, was sich hier gerade abspielte; sie wussten es beide.
»Haben Sie sie dazu angestiftet?«
Richterin Wagner schaltete sich ein: »Miss Vance, Sie müssen diese Frage nicht beantworten, da Sie sich durch die Antwort selbst belasten könnten, und zwar wegen Missachtung des Gerichts und Behinderung der Justiz.«
»Aber Sie dürfen antworten, wenn Sie wollen«, fügte Andi hinzu und sah ihre Lebensgefährtin unerbittlich an.
»Warum sollte ich das tun?« Genes Stimme zitterte jetzt. Sie hatten tatsächlich die Rollen getauscht. Gene war plötzlich die Schwache, und Andi hatte das getan, was Gene schon immer befürchtet hatte: Sie hatte ihr das Heft aus der Hand genommen.
»Trifft es zu, dass Elias Claymore Sie vor siebenundzwanzig Jahren im Alter von einundzwanzig vergewaltigt hat?«
Der ganze Gerichtssaal schnappte nach Luft.
»Elias Claymore hat weiße Frauen vergewaltigt.«
»Aber davor hat er sich auch an drei schwarzen Frauen vergriffen, um an ihnen ›seine Technik zu üben‹, wie er es in seiner Biographie genannt hat. Und Sie waren eine davon, ist es nicht so? Sie waren die Erste. Aber im Gegensatz zu den anderen Opfern haben Sie die Vergewaltigung nie zur Anzeige gebracht.«
Claymore saß zwischen Andi und Alex und machte einen verängstigten, ja geradezu entsetzten Eindruck.
»Er hat nie für das bezahlt, was er getan hat.«
Mehrere Geschworene beugten sich nun auf ihren Sitzen vor. Andi zögerte einen Moment, weil sie unsicher war, wie weit sie gehen sollte. Vor ihr saß die Frau, die sie liebte, und sie demontierte sie … in aller Öffentlichkeit.
»Was hat Sie auf die Idee gebracht, Elias Claymore nach all den Jahren eine Vergewaltigung anzuhängen?«
Gene machte den Mund auf, aber ihre Stimme versagte, und Tränen rollten ihr übers Gesicht. Mühsam rang sie um Fassung, bevor sie erklärte: »Nachdem Bethel ihren Vergewaltiger nicht auf den Polizeifotos erkannt hat, kam sie noch einmal ins Krisenzentrum zurück, um mit mir zu sprechen. Sie stand weinend in der Tür. Ich wusste genau, wie sie sich fühlte, schließlich hatte ich damals das Gleiche durchgemacht. Ich kannte das Gefühl so gut, dass ich es nicht ertragen konnte, wieder damit konfrontiert zu werden. Also bin ich ihr entgegengegangen und habe tröstend den Arm um sie gelegt … genau wie ich es vor vielen Jahren bei einem anderen verängstigten kleinen Mädchen getan habe.«
Wieder hielt sie inne, um den Tränenfluss unter Kontrolle zu bringen. Dann holte sie tief Luft und fuhr fort: »Ich habe ihr ein paar Pfeile in die Hand gedrückt, damit sie sie auf unsere Dartscheibe werfen konnte. Das ist ein Korkbrett mit Fotos von überführten Sexualverbrechern. Unter dem Brett steht: ›Die widerlichsten Vergewaltiger der Geschichte.‹ Mit diesem therapeutischen Instrument können Vergewaltigungsopfer ihren Schmerz und ihre Wut abreagieren. Bethel fing an, die Pfeile auf die Scheibe zu werfen, und nachdem sie alle drei Pfeile geworfen hatte, ging sie hin, um sie wieder herauszuziehen und von vorn anzufangen. Aber als sie die Fotos aus der Nähe sah, glaubte sie, ein Gesicht darauf erkannt zu haben. Dabei handelte es sich um das Foto eines jungen Mannes. Sie hielt ihn für den Mann, der sie vergewaltigt hatte, und fing an, aufgeregt auf mich einzureden.«
»Aber es war nicht der Mann, der sie vergewaltigt hatte«, sagte Andi. Es war eine Feststellung, keine Frage. Sie glaubte zu wissen, wer der Mann auf dem Foto war.
»Nein. Dieser Mann konnte es nicht gewesen sein, weil es sich um ein altes Foto von Elias Claymore handelte. Ich wusste, dass er inzwischen mindestens Mitte fünfzig war, und sie hatte mir erzählt, dass ihr Vergewaltiger zwischen zwanzig und dreißig war. Mir war also klar, dass der echte Vergewaltiger durch Zufall so aussah, wie Claymore früher ausgesehen hatte. Und das musste ich ihr nun eröffnen, obwohl sie so sicher war, den richtigen Mann identifiziert zu haben. Ich musste ihr mitteilen, dass es der falsche war – gerade, als sie
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