Späte Schuld
unbemerkt fliehen, und in einer Polizeiuniform, deren Hosenbein bis zur Hüfte aufgeschlitzt war, wäre es ihm wohl kaum gelungen, unerkannt die Klinik zu verlassen. Also mühte er sich weiter damit ab, die Hose über den Gips zu ziehen, ohne sie zu zerreißen.
Er schnallte gerade den Gürtel zu, als die Tür aufging. Der Krankenschwester fiel erst nach einigen Schritten ins Zimmer auf, dass das Bett leer war. Sie erblickte Manning und wollte schreiend kehrtmachen, aber er zog eine Elektroschockwaffe aus dem Halfter der Uniform und richtete sie auf die Schwester, die geräuschlos zu Boden sank.
»Ich habe noch eine alte Rechnung zu begleichen«, sagte er und stieg über sie hinweg, bevor er zur Tür ging und das Zimmer verließ.
Mittwoch, 2. September 2009 – 13.05 Uhr
Elias Claymore starrte auf den Zweiundvierzig-Zoll-Plasmafernseher seiner Balkonsuite im Hyatt Regency in San Francisco. Er hatte beschlossen, nicht sofort nach dem Prozess zurück nach L.A. zu fliegen, weil ihn dort nur die Reporter belagern würden. Als er Alex angerufen hatte, um ihn zu fragen, wie es mit der Presse gelaufen war, hatte ihn sein Freund in die Kanzlei eingeladen, aber Claymore war davor zurückgeschreckt, erneut Andis missbilligendem Blick zu begegnen. Also hatte er auf Alex’ Vorschlag hin diese siebzig Quadratmeter große Luxussuite im Hyatt Regency gebucht, das sich in Gebäude fünf des Embarcadero Center befand. Die Suite verfügte über einen zwei mal fünf Meter großen Balkon und bot durch die deckenhohe Fensterfront einen überwältigenden Blick auf die Bay Bridge.
Claymore saß auf dem Sofa und trank eine Tasse Kaffee, während er den Bericht über den Ausgang des Prozesses in den Abendnachrichten verfolgte. Alex hatte ihm erzählt, dass Martine als Reporterin des Prozesses hatte zurücktreten müssen, daher war er jetzt neugierig darauf, wie sich ihre Nachfolgerin anstellte. Am meisten jedoch interessierte ihn, wie er selbst in dem Bericht dargestellt wurde: als Geschädigter oder als Bösewicht, der glimpflich davongekommen war.
Schnell stellte er fest, dass die Berichterstattung recht neutral und objektiv war. Es wurde zwar darauf hingewiesen, dass er unschuldig war, aber es kamen keinerlei Emotionen zum Ausdruck, geschweige denn Mitgefühl. Und da die Nachrichtensendung rund um die Uhr lief, wurde immer wieder dasselbe gesagt.
Aber ihn beunruhigte etwas ganz anderes. Er ging zum Telefon und rief Alex an.
»Kanzlei Alex Sedaka«, meldete sich Juanita.
»Hallo, Juanita. Könnte ich vielleicht kurz mit Andi sprechen?«
»Sie ist nicht da.«
»War sie heute schon in der Kanzlei?«
»Nein. War Sie nicht im Gerichtssaal bei Ihnen, als die Klage gegen Sie abgewiesen wurde?« In Juanitas Stimme klang ein leiser misstrauischer Unterton mit.
»Doch, aber seitdem habe ich sie nicht mehr gesehen. Wissen Sie, ob Alex sie gesehen oder mit ihr gesprochen hat?«
»Einen Moment, bitte. Ich frage ihn.«
Sie legte ihn in die Warteschleife, und er hörte Musik.
»Hallo, Elias.« Alex war selbst in der Leitung.
»Ja, hallo, Alex. Ich wollte fragen, ob du Andi gesehen hast. Wir sind nach der Verhandlung getrennte Wege gegangen und …« Er brach ab.
»Nein, habe ich nicht«, antwortete Alex. »Kann ich dir vielleicht behilflich sein?«
»Nein, nicht wirklich. Hast du … hast du seit der Verhandlung mit ihr gesprochen?«
In der Leitung herrschte Schweigen. »Stimmt irgendetwas nicht, Elias?«
Claymore seufzte und überlegte, wie er es am besten erklären sollte. »Na ja, es ist nur so, dass wir … also eigentlich sie … sie wirkte ein bisschen aufgebracht, als wir uns voneinander verabschiedet haben.«
Wieder herrschte Schweigen, bevor Alex fragte: »Ist zwischen euch irgendetwas vorgefallen?«
»Kommt drauf an, was du mit vorgefallen meinst.«
»Ich meine, habt ihr euch gestritten?« Alex klang verärgert und schien Claymore übelzunehmen, dass er nicht offen mit der Sprache herausrückte. Oder hatte Andi vielleicht doch schon mit ihm gesprochen?
»Nein, eigentlich nicht. Ich meine, es war nicht direkt ein Streit, aber sie hat etwas gesagt, was …«
»Was hat sie gesagt?«
»Ich kann es eigentlich nicht an irgendeiner bestimmten Aussage festmachen, aber ich hatte den Eindruck, dass sie … dass sie mir die Schuld daran gibt, dass sie Gene so etwas antun musste.«
Erneut schwieg Alex, bevor er sagte: »Kann durchaus sein, dass sie sich darüber geärgert hat. Vielleicht ist sie schon zurück nach L.A.
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