Späte Schuld
Assistentin war eine junge Frau von dreiundzwanzig Jahren, die sich mit jugendlicher Begeisterung in ihre Aufgaben stürzte und den Anfang ihrer Karriere bei Gericht als großes Abenteuer betrachtete. Ellen Wagner sah viel von sich selbst in diesem Mädchen. Der wache Blick, das Staunen über all die Möglichkeiten, all die Hoffnungen und Zukunftsträume, die zum Greifen nahe schienen. Und dieses Mädchen wuchs in einer Welt heran, die so viel einfacher geworden war durch das, was Ellen Wagners Generation für sie erkämpft hatte – denn gekämpft hatten sie, und am Ende auch gesiegt.
Aber was hatte dieser Sieg gebracht? War die Welt heute wirklich eine andere? Plus ça change, plus c’est la même chose … Stimmte es wirklich, dass man am Ende erntete, was man säte, oder hatten sie nur die alten Stereotypen durch neue ersetzt? Hatten sie die Rechte der einen gegen die Rechte der anderen getauscht, ohne jenem unerreichbaren Nirwana, in dem jeder die gleichen Rechte hatte, wirklich näher gekommen zu sein?
Claymore war als freier Mann aus dem Gerichtssaal marschiert, von Rechts wegen war er unschuldig. Dafür stand einem seiner Opfer jetzt vielleicht eine mehrjährige Haftstrafe wegen Behinderung der Justiz bevor. War das gerecht?
Vielleicht gelang es Claymore sogar, sein Leben als Prominenter wieder aufzunehmen. Es würde nicht leicht für ihn werden, aber ein reuiger Sünder findet immer seine Anhänger, vor allem in Amerika. Diese Tatsache hatte er schon einmal unter Beweis gestellt und würde es vermutlich wieder tun.
»Brauchen Sie jemanden zum Reden?«, fragte die Assistentin.
»Nein … nein, schon in Ordnung. Sie können für heute nach Hause gehen.«
Mittwoch, 2. September 2009 – 15.10 Uhr
Rauchschwaden hingen in der Luft, und Gangster-Rap schallte durch den Raum. Hin und wieder war das Klackern der weißen Billardkugel zu hören, die von einer anderen Kugel oder der Bande abprallte.
Gene ignorierte die bewundernden Pfiffe und vulgären Anmachsprüche und blieb mitten in der Bar stehen, um sich umzusehen. Sie hatte ein paar Anrufe getätigt und einige Leute in finsteren Seitengassen getroffen, aber da sie die Sprache der Straße beherrschte, war es nur eine Frage der Zeit gewesen, bis man ihr diese Bar genannt hatte. Und hier war sie nun.
Beim Gedanken an ihr Vorhaben musste sie schlucken. Dann herrscht endlich Gerechtigkeit , redete sie sich ein. Dass sie damit auf lange Sicht Gutes bewirkte, konnte sie sich allerdings nicht einreden.
Sie wappnete sich für den nächsten Schritt und ging entschlossen auf den Barkeeper zu. Noch bevor er sie fragen konnte, was sie trinken wollte, flüsterte sie ihm etwas ins Ohr und drückte ihm einen Zehndollarschein in die Hand.
Er antwortete ihr ebenfalls mit gedämpfter Stimme und wies mit dem Kinn auf einen Ecktisch. Beiläufig machte sie kehrt und schlenderte auf den Tisch zu, an dem ein junger Mann saß und etwas rauchte, das wie ein Joint aussah. Auch er tat völlig unbekümmert.
»Bist du Joe?«
Er hob den Blick und sah sie ohne ein Lächeln an. »Wer will’n das wissen?«
»Jane.«
»Hübscher Name«, sagte er und verzog das Gesicht zu einem kaum wahrnehmbaren Grinsen. »Ich kenne ’ne ganze Menge Janes. Die meisten davon gehen auf den Strich.«
»Ich nicht.«
»Nein, das dachte ich mir schon. Bist du die Jane, die mir ’ne Knarre abkaufen will?«
Mittwoch, 2. September 2009 – 16.30 Uhr
»Hallo, könnte ich bitte mit Martine Yin sprechen? Ich weiß leider nicht genau, welche Zimmernummer sie hat.«
Am anderen Ende der Leitung blätterte ein Hotelangestellter pflichtschuldig das Reservierungsbuch durch, obwohl ihm der Name nicht bekannt vorkam.
»Wie war der Name noch mal, Sir?«
»Yin. Martine Yin.«
»Ich kann leider keinen Gast mit diesem Namen finden, Sir.«
»Dann hat sie vielleicht doch schon ausgecheckt, entschuldigen Sie bitte. Trotzdem vielen Dank.«
»Gern geschehen. Einen schönen Tag noch.«
Er legte auf und strich den Namen des Hotels von seiner Liste.
Mittwoch, 2. September 2009 – 16.55 Uhr
Elias Claymore überlegte, ob er Alex erneut anrufen sollte, aber da er sich noch nicht von selbst bei ihm gemeldet hatte, hatte er Andi vermutlich nicht erreicht. Claymore hätte natürlich zur Rezeption gehen und nach ihrer Zimmernummer fragen können, fürchtete jedoch, dass man ihm dort die Nummer nicht verraten, sondern ihm höchstens anbieten würde, das Haustelefon zu benutzen.
Mehr brauchte er ja eigentlich nicht.
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