Späte Schuld
geflogen, um sich mit Gene zu versöhnen.«
Claymore hielt das für unwahrscheinlich. »Nach allem, was im Gerichtssaal passiert ist, glaube ich nicht …« Er brauchte den Satz nicht zu Ende zu bringen.
»Nein, da hast du wohl recht«, sagte Alex. »Ich weiß jedenfalls auch nicht, wo sie ist. Vielleicht reagiert sie irgendwo ihre Wut ab.«
»Hast du eine Ahnung, wie sie das anstellen …«
»Woher zur Hölle soll ich das wissen?«, unterbrach ihn Alex gereizt. »Vielleicht ist sie ja joggen gegangen oder besäuft sich irgendwo, aber es kann genauso gut sein, dass sie schmollend in ihrem Hotelzimmer sitzt.«
»Hast du die Telefonnummer von ihrem Hotel? Oder ihre Handynummer?«
»Ja, hab ich. Sie wohnt übrigens auch im Hyatt Regency. Aber wenn ihr im Streit auseinandergegangen seid, ist es vielleicht keine gute Idee, dass du sie anrufst. Ich rufe sie selbst an und lasse es dich wissen, wenn ich sie erreicht habe.«
Mehr konnte Claymore wohl im Augenblick nicht verlangen. »Okay, vielen Dank.«
Mittwoch, 2. September 2009 – 13.20 Uhr
Elf Stockwerke tiefer saß Andi in ihrem Hotelzimmer, trank Wodka und schluckte Tabletten. Sie hatte eigentlich vorgehabt, auszuchecken und nach L.A. zurückzufliegen, aber sie konnte unmöglich zurück in ihr gemeinsames Haus – nicht jetzt. Vor Gene hatte sie keine Angst, aber vor der kühlen Atmosphäre, die dort herrschen würde.
Also suchte sie stattdessen Trost im Alkohol, und als das nicht mehr ausreichte, griff sie zu Beruhigungstabletten. Das letzte Mal, dass sie sich in einer ähnlich selbstzerstörerischen Abwärtsspirale befunden hatte, war direkt nach ihrer Vergewaltigung gewesen.
Damals hatte ihr Gene durch diese Krise geholfen. Aber diesmal konnte sie von ihr keine Unterstützung erwarten. Gene war die Krise.
Was tut mehr weh: Das, was Gene mir angetan hat, oder das, was ich ihr angetan habe?
Irgendwie war alles verworren und unübersichtlich. Gene hatte es nicht darauf abgesehen gehabt, ihr wehzutun. Sie war allein auf Rache an Claymore aus gewesen, nachdem sich ihr endlich die Gelegenheit dazu geboten hatte. Aber ihre Rache war rücksichtslos gewesen und hatte nicht nur ihm geschadet, sondern auch unschuldigen Beteiligten. Sie hatte Bethel Newton um die Chance gebracht, ihren echten Vergewaltiger seiner gerechten Strafe zuzuführen. Trotz der mitochondrischen DNA würde es schwierig werden, Louis Manning die Vergewaltigung nachzuweisen, nachdem Bethel vor Gericht eindeutig Claymore identifiziert hatte. Die DNA bewies zwar, dass es zu sexuellen Handlungen gekommen war, aber die Verteidigung konnte Bethel persönlich angreifen und behaupten, sie könne Realität nicht von Fantasie unterscheiden, und der Geschlechtsverkehr sei eindeutig einvernehmlich erfolgt.
Vielleicht wäre es auch ohne Genes Intervention dazu gekommen. Auch Andi hatte schließlich den früheren Vorfall mit Luke Orlando angeführt – wofür sie sich ewig schämen würde. Bethels falsche Anschuldigungen gegen Claymore und die plötzliche Änderung ihrer Altersangabe von Mitte zwanzig auf Mitte fünfzig und dann wieder zurück machten zukünftige Aussagen vor Gericht jedenfalls nicht gerade glaubwürdiger.
Aber es gab etwas, was Andi noch mehr beunruhigte, und dabei dachte sie weniger an Bethel oder Gene als an sich selbst: Das Bollwerk, das Gene und sie im Laufe der vielen gemeinsamen Jahre errichtet hatten – sie beide gegen den Rest der Welt –, war für immer zerstört.
Am schwersten zu ertragen war die Tatsache, dass es nicht Gene war, die dieses Bollwerk zerstört hatte. Als Gene zu ihrem Rachefeldzug aufgebrochen war, hatte sie noch nicht wissen können, dass Andi Claymore verteidigen würde. Und jetzt wurde Andi klar, warum sich Gene so darüber aufgeregt hatte, dass sie den Fall übernahm. Nicht nur wegen dem, was Claymore getan hatte, sondern weil ihre Rachepläne dadurch gefährdet wurden. Aber da war es für einen Rückzieher bereits zu spät gewesen. Gene konnte den Stein, den sie ins Rollen gebracht hatte, nicht mehr aufhalten. Schließlich konnte sie Bethel schlecht bitten, die Anschuldigung gegen Claymore wieder zurückzunehmen, nachdem sie selbst sie gerade erst dazu gedrängt hatte.
Andi hatte bewusst die Entscheidung getroffen, Gene vorzuladen und sie zu ihrem öffentlichen Geständnis zu zwingen. Natürlich würde ihr jeder bestätigen, dass sie nur ihre Pflicht getan hatte, dass es richtig gewesen war, ihre Gefühle beiseitezuschieben und streng nach Gesetz und
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