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Späte Schuld

Späte Schuld

Titel: Späte Schuld Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Kessler
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er noch zögerte. Teilweise, um zu verhindern, dass Johnson Mitleid erregte, aber hauptsächlich, um den Zeugen in Sicherheit zu wiegen.
    »Behält Alvarez Sie bei Ihrer Arbeit genau im Auge?«
    »Wie meinen Sie das?«, fragte Johnson nervös.
    »Na ja, Sie sind erst achtzehn. Und Sie sind kein Wissenschaftler, sondern nur Laborant. Muss er Sie da nicht genauestens beaufsichtigen, damit Sie keine Fehler machen?«
    »Überhaupt nicht. Er lässt mich sogar völlig unbeaufsichtigt arbeiten.«
    »Ist das nicht ein bisschen riskant? Ich meine, führt das bei anderen Mitarbeitern nicht zu Neid und Konflikten, weil es gegen übliche Gepflogenheiten verstößt?«
    »Warum sollten die anderen deswegen neidisch sein?«, fragte Johnson verwirrt.
    »Na ja, wenn er Sie unbeaufsichtigt arbeiten lässt und die anderen ständig überwacht …«
    »Er überwacht die anderen nicht.«
    »Oh, Sie meinen, alle Laboranten arbeiten unbeaufsichtigt?«
    Johnson wurde plötzlich klar, dass er zu viel gesagt hatte. »Nein. Ich meine … nicht immer.«
    »Oh, verstehe. Er sagt also an manchen Tagen: ›Heute dürft ihr alle unbeaufsichtigt arbeiten‹, und an anderen Tagen sagt er: ›Heute überwache ich genauestens, was ihr so macht.‹ Habe ich das richtig verstanden?«
    »Nein, so ist das nicht.«
    »Wie dann?«
    »Das hängt immer von … von den Umständen ab.«
    »Sie meinen davon, wie viel gerade zu tun ist?«
    »Ja.«
    »Wenn im Labor weniger zu tun ist, überwacht er seine Mitarbeiter also genauer?«
    »Ja.«
    »Und wenn viel zu tun ist nicht?«
    »Doch – ich meine, nein!« Johnson wusste, dass er längst übers Ziel hinausgeschossen war, und er wusste auch, dass er jetzt nicht mehr zurückkonnte. Mit jeder Antwort, die er gab, ritt er sich noch tiefer hinein. »Ich meine, wenn viel zu tun ist, kann er eben nicht ganz so aufmerksam sein, aber er beaufsichtigt uns natürlich immer.«
    »Aber Sie nie.«
    »Ich verstehe nicht ganz.«
    »Sie beaufsichtigt er nie. Ist das korrekt?«
    »Nein, mich überwacht er selbstverständlich auch.«
    »Aber Sie haben doch am Anfang gesagt, dass er Sie unbeaufsichtigt arbeiten lässt.«
    »Ja, aber nicht völlig unbeaufsichtigt.«
    »Was meinen Sie mit ›nicht völlig unbeaufsichtigt‹? Ist das nicht dasselbe, als wäre man ein kleines bisschen schwanger?«
    »Ich meine, er steht nicht direkt neben mir und schaut mir über die Schulter, aber er würde es merken, wenn ich einen Feh…«
    »Ja, Mr Johnson?«
    »Wenn ich einen Fehler machen würde.«
    Ruhig aber bestimmt stellte Alex seine nächste Frage: »Und haben Sie schon einmal einen Fehler gemacht?«
    »Nein.«
    Aber Johnson rutschte unbehaglich hin und her, als er das sagte. Allein die Tatsache, dass der Verteidiger ihm diese Frage stellte und ihn mit seinem stechenden Blick ansah, genügte, um ihn aus der Fassung zu bringen. Selbst wenn er unschuldig gewesen wäre und nichts zu verbergen gehabt hätte, hätte ihn dieser stechende Blick verunsichert.
    »Hatten Sie am fraglichen Tag viel zu tun?«
    Johnson sah zu Sarah Jensen hinüber. Alex drehte sich halb zu ihr um und blickte zwischen den beiden hin und her, um Johnsons Hilflosigkeit zu betonen und den Geschworenen unmissverständlich zu zeigen, dass der Zeuge sich hilfesuchend an die Staatsanwältin wandte.
    »Der Zeuge hat die Frage zu beantworten«, sagte die Richterin bestimmt.
    »Wir hatten ziemlich viel zu tun.«
    Das Wort »ziemlich« war ein verzweifelter Versuch, sich aus der Affäre zu ziehen – und Alex wusste es. Er durchschaute Johnsons Versuche, den vermeintlich sicheren Mittelweg zu wählen. Mit »ziemlich viel zu tun« hoffte er, sich die Antwort auf die nächste Frage offen zu halten.
    »So viel, dass Alvarez Sie unbeaufsichtigt arbeiten lassen musste?«
    Johnson konnte sich der Frage nicht länger entziehen: »Ich glaube schon.«
    »Warum gab es denn so viel zu tun?«
    »Ich verstehe nicht, was Sie meinen.« Er war verwirrt, weil er glaubte, schon wieder ins Fettnäpfchen getreten zu sein.
    »Das ist doch eine ganz einfache Frage. Warum hatten Sie viel zu tun?«
    »Weil … na ja … ich glaube, weil es viel Arbeit gab.«
    »Und nicht genug Mitarbeiter, um die Arbeit zu erledigen?«
    »Vermutlich …«
    »Mit anderen Worten: Es gab deshalb so viel zu tun, weil für das hohe Pensum nicht genug Personal da war?«
    »Ja«, antwortete Johnson.
    »Und weil im Labor viel zu tun war und es nicht genügend Mitarbeiter gab, standen Sie unter Druck und mussten so viel wie möglich

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