Späte Sühne - Island-Krimi
Schreibtischstuhl war beim Abtransport der Leiche etwas verrückt worden, aber auf dem Fußboden befanden sich weiße Kreidemarkierungen, die präzise anzeigten, wo der Stuhl am gestrigen Morgen gestanden hatte. Auf dieselbe Weise hatte man die Position der Füße auf dem Parkettboden gekennzeichnet. Eine bräunliche Schicht auf dem Boden zeigte die Konturen der Blutlache an. Was auf dem Boden gelegen hatte, war zwar von den Leuten, die die Leiche weggeschafft hatten, entfernt worden, aber sie hatten nicht den Fußboden geputzt, das gehörte nicht zu ihren Aufgaben. Auf dem Schreibtisch lag eine weiße Tüte mit einem beschrifteten Zettel. Darin befand sich eine große Zigarre, die aber nur zu einem kleinen Teil geraucht war. Der Hörer des Telefons lag nicht auf der Gabel, sondern hing an der Strippe fast bis zum Boden hinunter.
Der Leiter des deutschen Teams bearbeitete den Schreibtisch und den Stuhl mit extremer Sorgfalt. Er fand jede Menge Fingerabdrücke. Zum Schluss konzentrierte er sich auf einen auffälligen Handabdruck an der Tischkante beim Stuhl. Er demonstrierte Anna, dass sich da möglicherweise jemand mit der linken Hand aufgestützt und mit der rechten zugestochen haben konnte. Einer seiner Mitarbeiter fotografierte ihn in dieser Stellung. Der Handflächenabdruck war sehr deutlich und würde für einen Vergleich ausreichen.
In einer Ecke des Zimmers befand sich eine Sitzgruppe, bestehend aus einem Sofa, zwei Sesseln und einem niedrigen Couchtisch, auf dem zwei große Kerzenleuchter standen. Nach Annas Einschätzung waren sie mindestens fünfzig Zentimeter hoch. Die eine Kerze war ziemlich heruntergebrannt, die andere dagegen war angezündet und kurze Zeit später wieder gelöscht worden. Der Docht war schwarz, aber viel Wachs war nicht geschmolzen.
Anna beobachtete die Versuche eines der Teammitglieder, Spurensicherungspulver auf die Kerzenleuchter aufzutragen. Einige Münzen auf dem Tisch erregten ihre Aufmerksamkeit, ebenso wie Bruchstücke von einem weißen Material, das eher wie Gips als wie gebrannter Ton aussah. Der Mann vom Erkennungsdienst deutete darauf, und Anna nickte. Er sammelte die Münzen vorsichtig mit einer Pinzette auf und steckte sie in einen Umschlag, den er beschriftete. Anna zeichnete mit AÞ gegen. Auf die gleiche Weise verfuhr er mit den Gipsbröckchen.
Die Glasur des Leuchters wies alle möglichen Handabdrücke auf, doch der Mann hatte Probleme, komplette Abdrücke zu finden, die er sicherstellen konnte. Zum Schluss sah er achselzuckend zu Anna hinüber, und sie nickte. Das würde nichts bringen, und es war ohnehin unsicher, ob es Zusammenhänge gab.
Mit behandschuhter Hand griff sie vorsichtig nach dem Leuchter, in dem die Kerze länger gebrannt hatte, hielt ihn hoch und besah sich den Boden. In die gipsartige Bodenfüllung waren groß und grob die Buchstaben HK eingeritzt worden.
»Hallo«, sagte sie, um die Aufmerksamkeit des Technikers auf sich zu ziehen, der sich anderen Dingen zugewandt hatte. Als er zu ihr hinübersah, bedeutete sie ihm mit der freien Hand pantomimisch, Aufnahmen zu machen. Der Mann nickte und machte einige Fotos von dem Leuchter, den Anna in alle Richtungen drehte. Schließlich stellte sie ihn wieder auf den Tisch und nahm den anderen Leuchter hoch. Als sie ihn umdrehte und sich den Boden besah, stellte sie fest, dass die Füllung herausgebrochen war. Ein großes Loch hatte sich gebildet, der Kerzenleuchter war von innen hohl.
»Það er nefnilega það«, sagte Anna.
»Wie bitte?«
Anna lächelte und schüttelte den Kopf, deutete dann auf den Zollstock in der Tasche des Mannes und steckte den Finger in das Loch im Boden des Kerzenständers.
Der Deutsche verstand die Bewegung, nahm den Zollstock und steckte ihn, so weit es ging, in den Leuchter. Sie sahen beide auf das Ergebnis, einunddreißig Zentimeter.
Anna holte Gunnar und den Botschafter nach oben und bat sie, sich den Kerzenleuchter anzusehen.
Konráð erklärte ihnen, weshalb sie dort auf dem Tisch standen. »Das sind Exponate für die Ausstellung im Januar. Helgi hat sie vorausgeschickt, damit sie im Zuge der Vorbereitungen für die Ausstellung verwendet werden können. Die Kiste kam vor einem halben Monat hier an, und wir haben die Leuchter gleich ausgepackt. Seitdem stehen sie dort. Der Ausstellungsleiter hat ein Foto von Helgi und mir und diesen Objekten gemacht, das er an die Presse in Island weiterleiten wollte.«
Anna zeigte ihnen den Leuchter mit dem offenen Boden. »Ist es
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