Späte Sühne - Island-Krimi
gibt nicht viele, die sich für mich und mein Leben interessieren. Ich wurde im Frühjahr 1961 in Ísafjörður geboren.«
»Bist du dort auch aufgewachsen?«
»Ja, die ersten Jahre, solange ich noch ein richtiges Zuhause hatte.«
»Erzähl mir darüber.«
Fabían überlegte ein wenig, bevor er begann. »Meinen Vater habe ich schon vor meiner Geburt verloren«, sagte er. »Als meine Mutter im sechsten Monat war, stellte er fest, dass ihm das Zusammenleben mit ihr nicht passte. Ich habe diesen Mann nie in meinem Leben getroffen.«
»Weshalb wurdest du Fabían genannt? Das ist ein ungewöhnlicher Name.«
»Ich mag ihn. Er ist das Einzige, was ich von meiner Mutter habe. Mama hörte gern Musik, und sie nannte mich nach ihrem amerikanischen Lieblingssänger, der hieß Fabian oder Fabiano. Er war in diesen Jahren sehr populär und wurde häufig im Radio gespielt.«
»Ist deiner Mutter etwas passiert?«
»Ja. Sie wurde krank und starb.«
»Erzähl mir davon.«
Die Mikrowelle gab einen Ton von sich und Fabían holte die Glasschüssel heraus.
»In den ersten Jahren hat sie sich als alleinerziehende Mutter sehr gut durchgeschlagen«, sagte er. »Sie arbeitete in der Fischfabrik und hat bestens für mich gesorgt. Sie hatte das Glück, dass eine Frau, die selber drei Kinder hatte und tagsüber zusätzlich auf fünf aufpasste, sich auch meiner annahm. Ich war ein pflegeleichtes Kind, und deshalb war es auch kein Problem, wenn ich bis zum Abend dort bei den Leuten blieb, falls sie im Gefrierhaus Überstunden machen musste. Manchmal schlief ich im Bett bei einem der Kinder ein, und dann durfte ich die ganze Nacht dort bleiben. Mama schaute vielleicht noch kurz herein, um mir einen Gutenachtkuss zu geben, bevor sie nach Hause in unsere kleine Wohnung ging. Ich hatte also anfangs eine gute Kindheit. Als ich sieben war, erkrankte meine Mutter an einer Nervenkrankheit und war nicht mehr imstande zu arbeiten. Damals war ich natürlich schon in der Schule, aber ansonsten wuchs ich frei auf. Mama war noch ein paar Monate zu Hause, doch dann schaffte sie es nicht mehr, für uns beide zu sorgen. Sie wurde in eine Institution in Reykjavík eingewiesen. Ein Jahr später war sie tot.«
Während er redete, wendete Fabían Brotscheiben in dem heißen Fett.
»Als Mama keinen eigenen Haushalt mehr führen konnte, kam ich auf einen Bauernhof, wo Kinder aus schwierigen Verhältnissen untergebracht wurden. Der Hof war nicht groß, dort gab es Schafe und sieben Kühe, und er lag ziemlich isoliert weit draußen an einem Fjord. Das Leben dort war nicht schlecht, aber ganz und gar ohne Liebe. Wir waren fünf Jungen in unterschiedlichem Alter und hatten panische Angst vor dem Hausherrn, der uns ständig ausschimpfte und uns drohte. Zwar erinnere ich mich nicht daran, dass er uns geschlagen hat, aber irgendwie lag das ständig in der Luft. Ich war ungewöhnlich klein und zart für mein Alter, deswegen war ich keine große Hilfe bei den Arbeiten auf dem Hof, und das habe ich zu spüren bekommen. Ich litt auch sehr unter dem Verlust meiner Mutter, und niemand hat mir geholfen, darüber hinwegzukommen. Ich war seelisch ziemlich am Ende.«
Fabían nahm das Brett mit dem Brot und brachte es im Kühlschrank unter. »Das lassen wir jetzt erst mal noch etwas abkühlen, bevor wir es hinausbringen«, sagte er und setzte sich zu Birkir an den Tisch. »Kann ich dir etwas anbieten?«
Birkir schüttelte den Kopf. »Erzähl doch einfach weiter«, sagte er.
»In einem Herbst wurde ich schwer krank, und man musste mich ins Bezirkskrankenhaus in Ísafjörður bringen. Ich hatte eine Infektion und war zudem unterernährt, denn mein Appetit hat immer zu wünschen übrig gelassen. Ich war auch sehr verschlossen, habe nie aus eigenem Antrieb den Mund aufgemacht, und ich hatte Probleme mit der persönlichen Hygiene. Das wurde als tief greifende Entwicklungsstörung ausgelegt, und als die Leute auf dem Hof mich nicht wieder aufnehmen wollten, wurde ich in einem Heim für geistig Behinderte untergebracht. Dort ging es mir nicht schlecht, ich wurde in Ruhe gelassen. Gemessen an anderen war ich ein pflegeleichter Fall. Therapieversuche wurden kaum mit uns gemacht. Jeder Tag war wie der andere, ich saß fast immer am Fenster und sah in den Garten. Jemand hat mir irgendwann einmal Papier und Bleistift in die Hand gedrückt, und ich begann, das zu zeichnen, was ich draußen sah. Die Anfänge waren ziemlich unbeholfen, doch mit der Zeit entwickelte ich einige Techniken.
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