Späte Sühne - Island-Krimi
Meine Zeichnungen habe ich aber immer gleich wieder vernichtet, weil ich keine Aufmerksamkeit auf mich ziehen wollte. Ich fühlte mich wohl, wenn niemand mich beachtete, und so verbrachte ich die nächsten Jahre in diesem Heim.«
Fabían stand auf, holte zwei Plastikschüsseln aus einem Schrank und füllte sie mit Korn aus großen Tüten, die in der Vorratskammer hinter der Küche standen.
»Das hier ist eine Mischung aus Weizenkörnern und geschrotetem Mais, das mögen die Schneeammern«, sagte er und stellte die Schüsseln vor Birkir auf den Tisch. »Und das hier sind Sonnenblumenkerne für die Birkenzeisige.«
»Wie hast du den Sonnendichter kennengelernt?«, fragte Birkir.
Fabían holte das Brot wieder aus dem Kühlschrank und antwortete: »Das ist eine Geschichte für sich. Ein junger Hippie aus Reykjavík bewarb sich um einen Sommerjob in dem Heim, in das sie mich gesteckt hatten. Er hieß Jón Sváfnisson und bekam später den Beinamen Sonnendichter. Jón führte sich zwar ziemlich wild auf, hatte aber ein sehr feines Gespür für seine Umgebung und für andere Menschen. Und einmal beobachtete er mich, wie ich in einem Wochenmagazin las, als ich glaubte, niemand sähe mich. In diesem Heim war es keineswegs die Regel, dass die Insassen lesen konnten. Jón hat es trotzdem nicht der Heimleitung gemeldet. Er begann einfach, sich mit mir über alles Mögliche zu unterhalten, und machte sich nichts daraus, wenn er keine Antworten von mir bekam. In dem Sommer arbeitete dort auch ein Mädchen aus einem der Nachbardörfer, die Sunna hieß, sie half in der Küche mit und putzte. In ihren Freistunden sang sie immer und spielte Gitarre dazu, und zwar so gut, dass ich sogar meinen sicheren Platz am Fenster verließ und mich in ihre Nähe setzte. Und dann habe ich ein Bild von ihr mit der Gitarre gezeichnet. Das gelang mir so gut, dass ich es nicht vernichten mochte. Deswegen steckte ich es in ihren Gitarrenkasten, als niemand hinsah. Als das Blatt gefunden wurde, waren alle äußerst erstaunt, doch niemandem wäre eingefallen, dass der Idiot am Fenster so etwas Schönes gezeichnet haben könnte. Nur Jón, aber der sagte nichts. Jón war Dichter und hatte schon sehr schöne Gedichte gemacht, von denen Sunna begeistert war, und sie hat zu einigen davon Melodien komponiert. Jón und Sunna wurden ein Paar und gingen im Herbst gemeinsam nach Reykjavík.«
Fabían griff nach dem Brett mit den Apfelscheiben und dem Brot und bedeutete Birkir, die Schüsseln mit dem Vogelfutter zu nehmen. »Das muss jetzt nach draußen«, sagte er.
In der Diele stellte Fabían das Brett ab und zog sich einen dicken Anorak an. Aus den Fenstern des Hauses drang Licht in den Garten und auch von der Straßenbeleuchtung. Der volle Mond schien am Nordhimmel. Es war windstill, und man hörte nur das Plätschern von Wasser, das von einem Teich in den anderen lief.
Birkir war erstaunt über das Geräusch.
»Es wird mit einer kleinen Pumpe durch ein Rohr wieder in den oberen Teich zurückgeführt«, sagte Fabían. »Wir geben etwas von dem warmen Abwasser aus dem Heizungssystem hinzu, damit es nicht gefriert. Unsere Vögel haben ständig Zugang zu frischem Wasser.«
Birkir sah sich die beiden Teiche genauer an. Die Ränder waren sorgfältig aus flachen Steinen aufgeschichtet worden, und Moos hatte sich am Rand angesiedelt.
Fabían deutete auf eine zusammengeklappte Leiter, die unter den Bäumen lag.
»Würdest du die bitte für mich aufstellen?«, bat er. »Die Äpfel kommen in die Eberesche«, fügte er hinzu.
Fabían wies auf den Baum, an dem der Sturm in der vergangenen Woche nur noch ganz wenige Blätter gelassen hatte. »Bislang konnten die Drosseln noch Beeren finden, aber davon ist nun so gut wie nichts mehr übrig. Deswegen ist es wichtig, ihnen Äpfel und Fett zu geben, damit sie diesen Futterplatz kennen, wenn der Frost kommt. Im Übrigen glaube ich, dass immer dieselben Vögel zu uns kommen, wahrscheinlich merken sie sich ganz genau, wohin sie sich Jahr für Jahr wenden können.«
Birkir hob die Leiter hoch, und Fabían zeigte ihm, wo sie stehen sollte. »Stütz sie bitte ab, während ich hochklettere, und halt das unterdessen für mich«, bat er und reichte Birkir das Brett. »Hier in diesem Viertel gibt es so viele Katzen, dass wir das Futter sehr hoch anbringen müssen. Wir versuchen immer, sie zu verscheuchen, wenn sie hier herumschleichen.«
Birkir hielt die Leiter fest, und als Fabían unsicher hochgeklettert war, ließ er sich
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