Späte Sühne - Island-Krimi
drauflosschwadronieren, das ist äußerst beliebt. Aber du hast ja keine Ahnung von Literatur oder anderen Genüssen, die man nicht fressen kann.«
Der Kellner kam an den Tisch und stellte eine Flasche Holsten-Bier und eine kleine viereckige Flasche mit Kuemmerling vor Gunnar hin.
»Wo hast du eigentlich gelernt, so etwas zu trinken?«, fragte Emil.
»Bei Muttern. Sie trinkt gern mal einen Bitter.«
Der Wirt hatte sowohl das Bier als auch den Kräuterlikör speziell für Gunnar im Kühlschrank auf Lager, denn kein anderer Kunde bat um diese Kombination von Bier und Bitter.
»Jetzt mach dich vom Acker und stör jemand anderen«, sagte Emil. »Ich arbeite.«
Gunnar blickte sich um, sah aber nirgends einen freien Platz. »Hör zu«, sagte er, »kennst du den Sonnendichter?«
Emil fragte misstrauisch: »Wieso willst du das wissen?«
»Ich habe ihn in Deutschland getroffen.«
»Was hast du denn in Deutschland gemacht?«
»Spielt keine Rolle. Kennst du den Sonnendichter?«
»Ja, früher, als ich noch Spaß am Kiffen hatte, besorgte ich mir das Gras bei ihm. Er züchtete gute Pflanzen und konnte sie auch verarbeiten. Aber das ist lange her. Mehr als dreißig Jahre.«
»Und heute?«
»Es ist schon lange her, seit ich meinen letzten Joint geraucht habe. So was spielt den Hirnen von denkenden Menschen übel mit. Du brauchst dir natürlich deswegen keine Sorgen zu machen.«
»Ich meine, kennst du den Dichter immer noch?«, fragte Gunnar ungeduldig.
»Wir kennen uns eher flüchtig«, erklärte Emil zögerlich. »Mit dieser Trollgestalt kann man sich ganz vernünftig unterhalten, wenn man das Glück hat, den Kerl in guter Verfassung anzutreffen. Am Interessantesten ist er beim dritten und vierten Glas. Danach wird er unausstehlich.«
»Ist er ein guter Dichter?«
»Gedichte schreibt er schon lange nicht mehr. Er ist ein gebrochener Mensch. Er hat sich nie von diesem schrecklichen Unglück damals erholt.«
»Was für ein Unglück?«, fragte Gunnar.
Emil Edilon sah Gunnar müde an und legte den Stift auf den Tisch. »Anfang der Siebzigerjahre lebte der Sonnendichter in einer Hippiekommune auf einem abgelegenen Hof in Fljótshlíð. Diese Wohngemeinschaft löste sich auf, als das Haus einem Brand zum Opfer fiel und Jóns Freundin in den Flammen ums Leben kam. Das war tragisch. Das Mädchen war ein echtes musikalisches Talent und noch dazu ein unglaublich bezauberndes Wesen. Wir anderen haben nie verstanden, was sie an diesem Troll gesehen hat.« Emil machte eine Pause, während er sich an den Namen zu erinnern versuchte, dann fiel er ihm wieder ein. »Der Troll heißt Jón Sváfnisson«, sagte Emil. »Er hatte sicher auch seine guten Seiten, obwohl er nicht damit hausieren ging.«
Gunnar kannte Emils Problem, dass er sich keine Namen merken konnte. Häufig baute er sich mit anderen Namen oder Spitznamen eine Eselsbrücke, und deswegen war Gunnar der germanische Bergriese für ihn.
»Was meinst du damit, dass er sich nie wieder davon erholt hat?«
Emil antwortete ernst: »Der Mann war wie ausgewechselt. Früher war er in seinem lyrischen Schaffen ideenreich, konzentriert und diszipliniert. Nach dem Brand wurde er richtig merkwürdig. Manchmal schimmert ein fruchtbarer Gedanke bei ihm durch, aber er schafft es nicht, ihn zu Papier zu bringen.«
»Neigt er zu Gewalttätigkeit?«
Emil schüttelte den Kopf, und ein winziges Lächeln zuckte um seine Lippen. »Der Troll ist groß, und früher war er auch baumstark. Ich bin Zeuge gewesen, wie er Leute, die auf ihn losgehen wollten, einfach mit ausgestrecktem Arm von sich weggehalten hat. Es ist nicht seine Art, sich auf Schlägereien einzulassen, so viel steht fest.«
»Und Helgi Kárason?«
»Der Künstler?«
»Ja.«
»Was ist mit ihm?«
»Kennst du ihn?«
»Nein.«
»Kennst du Lúðvík Bjarnason?«
»Ich weiß, wer er ist.«
»Kannst du mir etwas über ihn sagen?«
Emil sah in sein Glas, es war leer. Er nahm es in die Hand und hielt es Gunnar unter die Nase. »Es würde helfen, wenn da etwas im Glas wäre.«
Gunnar drehte sich zum Tresen um und rief laut: »Kellermeister! Noch einmal dasselbe für den Dichter und für mich. Die Runde geht auf meine Rechnung.«
Der Barkeeper bestätigte die Bestellung mit einer Handbewegung.
»Wer ist dieser Lúðvík?«, fragte Gunnar.
»Als junger Mann wollte er eigentlich Künstler werden, aber er hatte keinerlei Talent, sodass aus diesem Traum nichts wurde. Inzwischen hat er seine Lebensaufgabe darin gefunden,
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