Späte Sühne - Island-Krimi
Hverfisgata stand alles auf dem Kopf, als bekannt wurde, dass Hauptkommissar Magnús Magnússon entführt worden war, und dass sich mit großer Wahrscheinlichkeit noch eine weitere Person in den Händen der Kidnapper befand. Terroranschlag war ein Wort, das häufig fiel. Birkir musste wiederholt und in allen Einzelheiten schildern, wieso er an diesem Abend eine Besprechung mit Magnús verlangt hatte, und wie das mit dem Brand in Sandgil zusammenhing. Nach langem Hin und Her kam man zu dem Ergebnis, dass der Sonnendichter Jón Sváfnisson zuoberst auf der Liste der Verdächtigen stand. Deswegen musste unverzüglich eine Hausdurchsuchung bei ihm vorgenommen werden. Birkir bat darum, sie gemeinsam mit Dóra durchführen zu dürfen. Das wurde zwar akzeptiert, aber man hielt es für notwendig, dass das SEK ebenfalls daran teilnahm. An den höchsten Stellen im Polizeipräsidium befürchtete man, dass es zu bewaffneten Auseinandersetzungen kommen könnte. Ein weiterer Einsatztrupp wurde zum Haus von Lúðvík Bjarnason nach Mosfellsbær geschickt.
Birkir und Dóra fuhren im Gefolge von sieben SEK -Leuten zum Jónshús. Zwei bezogen hinter dem Haus Position, zwei vorne und die anderen bei den Ausgängen.
»Sollen wir uns gewaltsam Zutritt verschaffen?«, fragte der Leiter des Kommandos.
»Wir geben ihnen zwei Minuten, um zur Tür zu kommen«, antwortete Birkir.
Eine halbe Minute, nachdem Dóra geklingelt hatte, öffnete Rakel die Tür.
Dóra sagte ihr, dass sie eine gerichtliche Verfügung hätten, das Haus zu durchsuchen, und wies das Schreiben vor.
Rakel gab den Weg frei, ohne einen Blick auf das Blatt zu werfen. »Hier sind immer alle willkommen«, sagte sie, und ihr war keinerlei Reaktion anzumerken. »In diesem Haus haben wir nichts zu verbergen.«
Birkir betrat das Haus als Letzter. »Wer ist im Augenblick im Haus?«, fragte er.
»Nur Fabían und ich«, antwortete Rakel. »Die anderen sind alle zusammen essen gegangen.«
»Ist Jón Sváfnisson bei ihnen?«
»Nein. Jón ist nicht in der Stadt.«
»Weißt du, wo er sich befindet?«
»Nein.«
»Weißt du, was er vorhat?«
»Nein.«
»Weißt du, ob er mit Lúðvík Bjarnason zusammen ist?«
»Nein, das weiß ich nicht.«
»Hat sein plötzliches Verschwinden etwas mit Arngrímur Ingason zu tun?«
»Ich weiß es wirklich nicht«, sagte Rakel. »Hör zu, Fabían ist sehr elend. Er kann kein Essen bei sich behalten, ich musste ihn an den Tropf legen. Falls Jón und Lúðvík irgendwelche Aktionen machen – mich haben sie da nicht informiert. Ich muss an Fabíans Seite bleiben. Sie haben mich im Krankenhaus freigestellt, damit ich mich um ihn kümmere. Mehr kann ich euch nicht sagen.«
»Warum ist Fabían nicht im Krankenhaus?«
»Dort können sie nicht mehr für ihn tun als ich hier. Für ihn ist es am erträglichsten, wenn er hier in seinem Zimmer sein und sein Gras rauchen kann. Zweimal in der Woche sieht der Arzt nach ihm, und ich arbeite nach seinen Anweisungen.«
»Darf ich Fabían stören?«, fragte Birkir.
»Ja. Ich war bei ihm, als es klingelte. Er war wach.«
»Weiß er etwas über Jóns Unternehmungen?«
»Nein«, sagte Rakel ernst. »Bitte erspar ihm Fragen nach Jón. Er weiß noch weniger als ich, und derartige Fragen würden ihn nur unnötig aufwühlen.«
Birkir ging die Treppe hoch. Die Tür zu Fabíans Zimmer, in dem eine kleine Nachttischlampe brannte, stand halb offen. Über dem Bett hing eine Flasche mit einer Flüssigkeit, die durch einen Schlauch mit einer Kanüle auf Fabíans Handrücken verbunden war. Er selber saß aufrecht im Bett und las zu den Klängen von schöner Musik in einem Buch. Ein Klavierkonzert von Mozart, vermutete Birkir.
»Guten Abend«, sagte Birkir.
Fabían nickte und lächelte schwach.
»Du liest«, sagte Birkir.
Fabían zeigte ihm das Buch, eine Anthologie von übersetzten Kurzgeschichten. »Ich fange keinen langen Roman mehr an«, sagte er. »Es ist ein unangenehmes Gefühl, wenn man nicht weiß, ob man ein Buch bis zu Ende lesen kann. Ich lese nur noch Novellen oder noch kürzere Texte. Und auch immer nur ein paar Zeilen auf einmal.«
»Ich habe mich heute mit Helgi Kárason unterhalten«, sagte Birkir.
»Helgi ging es hoffentlich gut?«, fragte Fabían. Er sprach zwar leise, aber sehr klar.
Birkir nickte. »Er hat mir gesagt, dass du mehr über den Brand in Sandgil weißt, als bislang bekannt war.«
»Es fällt mir schwer, darüber zu sprechen«, sagte Fabían.
»Ich verstehe. Ich will dir auch
Weitere Kostenlose Bücher