Späte Sühne - Island-Krimi
anrufen.«
Anna nickte.
22:10
Birkir fuhr zu Gunnar nach Hause. Der saß mit einem steifen Kragen um den Hals in der Küche und ließ sich von seiner Mutter beim Essen helfen.
»Möchtest du noch etwas von den Eintopfresten?«, fragte Gunnar heiser.
»Ja, danke, aber nur ein wenig.«
María holte einen Teller und setzte ihn Birkir vor.
»Was haben die Ärzte gesagt?«, fragte Birkir, nachdem er ein paar Löffel gegessen hatte.
Gunnar hatte Schwierigkeiten beim Schlucken. »Sie haben den Hals geröntgt«, sagte er schließlich. »Es hat sich herausgestellt, dass es nur Zerrungen sind. Ziemlich schlimme allerdings und erhebliche Prellungen. Ich muss mit diesem Kragen rumlaufen, bis sich das bessert.«
»Na, da scheinst du ja noch einmal glimpflich davongekommen zu sein«, sagte Birkir. »Ich hoffe, du bleibst in den nächsten Tagen zu Hause und pflegst dich.«
»Ich erscheine morgen zum Dienst«, sagte Gunnar. »Solange der Fall nicht geklärt ist, kann ich nicht einfach so zu Hause rumhängen. Telefonwache schieben kann ich allemal.«
»Bist du sicher?«, fragte Birkir.
»Ziemlich sicher«, sagte Gunnar. »Das wird sich im Übrigen morgen früh zeigen. Wenn es mir nicht schlechter geht, bin ich da. Wie läuft es im Hauptquartier?«
»Der Polizeipräsident hat ein Spezialteam für die Fahndung zusammengestellt, das seiner persönlichen Leitung untersteht. Wir sollen mit ihnen zusammenarbeiten.«
22:30
Für Anna wurde es ein langer Tag. Sie tendierte dazu, sich selber das Leben schwer zu machen, weil sie nur widerwillig Arbeiten an andere delegierte, sie vertraute niemandem. Bei einer Tatortanalyse kümmerte sie sich um alles selber. Das konnte unter Umständen Nachtarbeit bedeuten, so wie jetzt, nachdem ihr Birkir den Schreibblock gebracht hatte.
Anna begann damit, das oberste Blatt abzulösen und es unter diversen Lichtquellen zu betrachten. Das brachte aber nicht viel, deshalb machte sie eine Pause und ging nach unten auf den Parkplatz, um eine Zigarette zu rauchen. Dabei überlegte sie, wie am besten vorzugehen sei. Mit solchen Aufgaben wurde sie nicht oft konfrontiert.
Nach zwei Zigaretten draußen wusste sie, wie sie vorzugehen hatte. Im Gerätefundus gab es einen Apparat, der ESDA hieß, das war die Abkürzung für Electrostatic Detection Apparatus. Ein kleiner Kasten, der in einer Tasche untergebracht werden konnte. Beim Einschalten begann ein Ventilator zu surren. Anna legte das Blatt auf die dafür vorgesehene perforierte Platte. Durch den vom Ventilator erzeugten Luftstrom wurde das Blatt angesaugt. Dann breitete sie eine hauchdünne, durchsichtige Folie über das Blatt. Mit dem Gerät war ein elektrisches Kontaktstäbchen verbunden, und wenn man es einige Male über dem Papier hin und her bewegte, baute sich eine positive Ladung auf. Sie stäubte schwarzen Toner auf die Folie. Durch die Elektrostatik sammelte sich der Tonerstaub an den Enden der unter dem Druck der Kugelschreiberspitze geknickten Papierfasern.
Wie durch Zauberhand bildete der schwarze Staub deutlich ab, was zuletzt auf den Block geschrieben worden war. Darunter ließ sich sogar noch die Schrift vom Blatt darunter erkennen, wahrscheinlich eine Einkaufsliste für den Haushalt im Jónshús.
Anna konnte aber keine Adresse auf dem oberen Blatt erkennen, nur einige neben- und untereinander geschriebene Zahlen. Also brauchte sie Birkir auch nicht anzurufen. Es würde nicht einfach sein, sich einen Reim auf die Zahlen zu machen.
23:00
Als Birkir seinen Wagen auf seinem Parkplatz hinter dem Haus abstellte, hatte es angefangen zu schneien. Er blieb noch eine Weile im Auto sitzen, dachte nach und traf dann die Entscheidung, noch nicht Feierabend zu machen, sondern noch einmal zum Jónshús zu gehen und sich dort umzusehen.
Der dichte Schnee fiel in nassen und schweren Flocken, und schon nach kurzer Zeit war alles weiß. Der Schnee setzte sich auf Birkirs Schultern und im Haar fest, und er blieb ab und zu stehen, um ihn abzuschütteln. Schräg gegenüber dem Jónshús stand ein Auto auf einem Parkplatz. Der Motor lief, und die Scheibenwischer sorgten dafür, dass die Windschutzscheibe frei blieb. Es waren zwei Polizisten in Zivil, die der Polizeipräsident dort postiert hatte, falls der Sonnendichter sich dort blicken lassen sollte.
Birkir klopfte an die Seitenscheibe. »Guten Abend«, sagte er, als der Mann am Steuer die Scheibe herunterließ.
»Hallo«, sagte der Mann.
»Irgendein Lebenszeichen hier?«, fragte
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